Was Transgender-Autorin Vivek Shraya liebt
23. Oktober 2021Vivek Shraya arbeitet in verschiedenen Disziplinen: Tanz, Fotografie, Film, Theater und Literatur. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse gehört die 40-Jährige zur kanadischen Delegation. Durch ihre Kunst gewährt Vivek Shraya Einblick in Leben und Identität von Trans-Menschen. Bekannt wurde sie durch ihr 2018 veröffentlichtes, noch nicht ins Deutsche übersetzte Buch "I''m Afraid of Men" oder ihre Anthologie "What I Love about being Queer". Mit "The Subtweet" und dem in diesem Jahr erschienen Roman "How to Fail as a Popstar" wechselte sie ins fiktionale Genre. Shraya führte außerdem Regie bei der Produktion von Kurzfilmen und lehrt derzeit an der Universität von Calgary Kreatives Schreiben. Am Rande der diesjährigen Frankfurter Buchmesse sprach sie mit der DW über die Auseinandersetzung mit ihrer Queer-Identität und das Ausloten von Gender-Konzepten mit Hilfe der Kunst.
Deutsche Welle: An welchem Punkt in Ihrem Leben haben Sie beschlossen, sich als queer zu outen?
Vivek Shraya: Eine der schwierigsten Erfahrungen für mich war, dass mir gesagt wurde, wer ich bin, bevor ich die Möglichkeit hatte, selbst zu erfahren, wer ich bin. In jungen Jahren wurde ich mit allen möglichen homophoben Schimpfwörtern überzogen. Es war so seltsam, dass die Leute etwas über dich wussten, das du nicht wusstest. Ich hatte dunkelhäutige Eltern und wusste nicht, was Schwulsein bedeutet. Wenn Kinder mich "schwul" oder "Tunte" nannten, sagte ich: 'Ich weiß nicht, was das bedeutet.' Ich konnte meine Eltern nicht fragen, weil sie es auch nicht wussten.
Warum haben die Leute so auf Sie reagiert?
Ich glaube, es hatte nichts mit meiner Sexualität zu tun. Bei den Begriffen 'schwul' und 'queer' geht es um die sexuelle Orientierung, aber ich glaube, es ging um mein Geschlecht - dass ich mich nicht wie ein typischer Junge verhalten habe. Ich mochte Kunst, ich war kreativ, ich hatte viele Freundinnen. Ich war kein Super-Macho. Im indischen Verständnis von Männlichkeit wären solche Eigenschaften kein Problem - man denke nur an die Hindu-Gottheiten. Was wir in Nordamerika als sehr weiblich ansehen, gilt in der indischen Kultur als männlich. Aber in Nordamerika wird es als falsch interpretiert, wenn man als kleiner Junge gerne singt und tanzt. Als ich merkte, dass ich queer bin, hat es noch lange gedauert, bis ich es akzeptiert hatte. Wie nimmt man etwas an, von dem man in der Kindheit gesagt bekommt hat, es sei etwas Schlechtes? Eines meiner ersten Kunstprojekte vor etwa zehn Jahren hieß "What I Love about being Queer". Damit habe ich versucht, Queersein als positiv zu erfahren, anders als es mir in meiner Kindheit beigebracht wurde. Viele Filme, die ich sah, suggerierten, dass ich von meinen Eltern verstoßen werden würde, dass ich mich umbringen oder AIDS bekommen würde.
Welche Filme waren das im Einzelnen?
In den 1990er-Jahren war das "Philadelphia". Ich dachte: 'Oh, genau das wird mir passieren. Ich werde diese Krankheit bekommen und sterben.' In der Zeit gab es noch kein Internet. Auch in "Brokeback Mountain" - einem anderen bedeutenden Queer-Film - geht es um Schwulenfeindlichkeit.
Ich wollte es anders machen: die fantastischen Erfahrungen der Queerness dokumentieren. In vielerlei Hinsicht ist das mein Ansatz in meiner Kunst; ich versuche, einen anderen Blickwinkel zu zeigen. Wir haben eine Vorstellung von einer Sache, zum Beispiel von Männlichkeit. Als ich "I'm Afraid of Men" schrieb, das war in der Zeit, als die #MeToo-Bewegung aufkam, wurde viel von den Erfahrungen weißer Frauen gesprochen, doch die Perspektive einer farbigen Trans-Frau, die spielte im Mainstream-Diskurs keine Rolle. Ich mag nicht, wenn Leute zu mir sagen: 'Ich liebe dein Buch; ich hasse alle Männer.' Und dann antworte ich: Ich hasse nicht alle Männer, denn für mich besteht die Spannung im Buch darin, auszuloten, was es bedeutet, Männer zu lieben und zu begehren, aber trotzdem Angst zu haben.
Es gibt Passagen in dem Buch, in denen Sie beunruhigende Begegnungen mit Männern beschreiben. Wie sind Sie damit umgegangen?
Kunst ist für mich ein sehr wirksames Heilmittel. Indem ich meine Erfahrungen und meine Geschichte in der Kunst verarbeite, hoffe ich, diese Themen sichtbarer zu machen, so dass die Menschen ihre Sichtweise auf das, was sie nicht wissen oder worüber sie vielleicht Vorurteile haben, ändern können. Ich habe mich in Therapie begeben, ich habe gute Freunde und Familienangehörige, mit denen ich rede.
Und es gibt Tage, die schwieriger sind als andere, aber ich möchte nicht, dass die Botschaft meiner Arbeit lautet, mein Leben sei schwierig. Es geht nicht darum, Mitleid zu wecken.
Viele Leute haben das "positive" Vorurteil, dass queere Menschen in gewisser Weise sensibler sind. Ist da was dran?
Wenn man queer ist oder einer anderen Minderheit angehört, muss man lernen, wer man ist, und dass man sich über sich selbst bewusst werden muss, mehr, als es vielleicht andere Menschen tun müssen. Von klein auf war ich mir meiner Gestik, meiner Augensprache und der Art, wie ich gehe, sehr bewusst. Darüber hinaus nehme ich meine Umgebung sehr genau wahr. Ein Geschenk des Queer-Seins ist es also, wenn man so will, zu lernen, sich seiner selbst bewusster. Zu werden. Zum einen, weil es eine Überlebensstrategie ist, zum anderen könnte man meinen, dass jemand, der queer ist, aufgeschlossener ist. Und ich habe immer wieder festgestellt, dass das nicht stimmt.
Können Sie das näher erläutern?
In "I'm Afraid of Men" versuche ich, eine ganze Bandbreite von Männlichkeit anzusprechen. Es geht also nicht nur um CIS-Männer oder Heteromänner, sondern ich spreche über meine Erfahrungen mit schwulen Männern und über meine Erfahrungen mit Frauen. Ich denke, es ist wichtig für uns, einen vielschichtigen Ansatz zu haben, besonders wenn wir über Themen wie Patriarchat und Frauenfeindlichkeit sprechen. In mancher Hinsicht sind wir also sensibler, aber in anderer Hinsicht haben wir dieselben Vorurteile gelernt wie viele andere Menschen auch. Ich bezeichne mich zum Beispiel auch als bisexuell, und viele Heterosexuelle waren sehr aufgeschlossen, als ich in einer bisexuellen Beziehung war, aber Queer-Menschen waren sehr voreingenommen. Ich kenne eine Menge schwuler Männer, die sich in der Nähe von Lesben sehr unwohl fühlen. Und in vielen Fällen liegt die Ursache in der Frauenfeindlichkeit. Wir sprechen nicht genug über Sexismus innerhalb der Queer-Community.
Was genau lieben Sie am Queersein?
Ich denke, eines der Dinge, die ich am Queersein liebe, ist, wie wunderbar es ist, eine Familie außerhalb der biologischen Familie aufzubauen. Eine Schwierigkeit während der Pandemie bestand darin, dass die Menschen gezwungen waren, bei ihren biologischen Familien zu bleiben, und dass wir nicht in der Lage waren, unsere erweiterten, gewählten Familien zu sehen. Das ist eines der Dinge, die ich am Queersein liebe, dass wir andere Familien aufbauen.
Adaption aus dem Englisch von Sven Töniges.