Was tut die EU für russische Deserteure?
29. September 2022Die jüngste Aufforderung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an Männer in Russland war unmissverständlich: "Ergebt euch nicht der kriminellen Mobilmachung! Flieht!" Hunderttausende Russen im wehrfähigen Alter haben bereits auf die Teilmobilmachung reagiert, indem sie in Nachbarländer geflüchtet sind, in die sie ohne Visa einreisen können. Satellitenbilder zeigen kilometerlange Autoschlangen an den Grenzen zu Georgien, Kasachstan, Finnland oder der Mongolei. Die wenigen internationalen Flüge aus Russland waren in der vorigen Woche innerhalb von Stunden ausverkauft.
Die Grenzen schließen sich für Kriegsdienstverweigerer
Die Regierungen von Kasachstan und Georgien haben am Dienstag schließlich alle Russen willkommen geheißen, die vor der Mobilmachung fliehen. Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew erklärte, viele Betroffene sähen keinen anderen Ausweg aus der Situation. "Wir müssen für ihre Sicherheit sorgen. Das ist eine politische und humanitäre Frage." Die Erklärung zeigt, dass die kasachische Regierung Russlands Krieg in der Ukraine und die Mobilmachung zunehmend ablehnt. Sie weigert sich auch, Flüchtende nach Russland auszuliefern.
Die Türkei dagegen scheint Einreisen von Russen weitgehend verhindern zu wollen. Die Fluglinie Turkish Airlines hat ihre Verbindungen nach Belarus und zu verschiedenen Zielen in Russland bis Ende des Jahres storniert. Seit dem Überfall auf die Ukraine gehörte die Türkei zu den wenigen Ländern, in die es noch direkte Verbindungen aus Russland gab. Jetzt verringern sich die Optionen für Ausreisewillige. Aber Männer im wehrfähigen Alter flüchten mit allen verfügbaren Mitteln. In den vergangenen Tagen wurden in der Nähe von Grenzübergängen zu den Nachbarländern Hunderte zurückgelassener Fahrräder gefunden.
Die baltischen Staaten haben inzwischen ihre Landgrenzen zu Russland weitgehend geschlossen. Bereits seit Mitte des Monats verweigern sie russischen Touristen die Einreise. Der lettische Außenminister Edgars Rinkevics begründete das mit Sicherheitsbedenken. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis formuliert harsch: "Litauen wird denen kein Asyl geben, die vor ihrer Verantwortung weglaufen. Russen sollten bleiben und kämpfen. Gegen Putin." Und die estnische Premierministerin Kaja Kalla schreibt auf Twitter. "Wir gewähren russischen Männern, die ihr Land fliehen, kein Asyl: Sie sollten gegen den Krieg kämpfen."
Skeptisch ist auch der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo: "Es kann nicht die Absicht Europas sein, zu allen Russen Ja zu sagen, die Wehrdienstverweigerer sind oder die nicht mit dem Regime in Russland übereinstimmen", erklärte er der Sonntagszeitung "De Zevende Dag".
Nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex sind in der vergangenen Woche 66.000 russische Bürger in die EU gekommen, davon 30.00 allein nach Finnland. Das sind 30 Prozent mehr als in der Vorwoche. Es gebe auch Berichte über Flüchtende aus den russisch besetzten Gebieten in der Ukraine, erklärt Frontex.
Die finnische Grenzbehörde hat inzwischen vorgeschlagen, an Teilen der Grenze zu Russland einen Zaun zu bauen. Allerdings wäre das eine Lösung für die fernere Zukunft. Legal kann derzeit nur nach Finnland einreisen, wer einen Pass und ein Schengen-Visum hat - allerdings räumen die Behörden ein, dass sie Asylanträge russischer Flüchtlinge prüfen.
Die EU sucht eine einheitliche Linie
Am vergangenen Montag diskutierten die EU-Botschafter das Thema. Ein Vorschlag war, russischen Flüchtenden zumindest vorübergehend Schutz zu gewähren. Die Kommission in Brüssel erklärte am Dienstag, sie sei in Kontakt mit den Mitgliedsländern und suche nach Lösungen. Der rechtliche Rahmen für Asylanträge sei klar: "Wenn es darum geht, dass Menschen in die EU kommen und um internationalen Schutz bitten, muss der garantiert werden", so EU-Kommissionssprecher Eric Mamer. Die EU-Länder müssten jede Anfrage individuell entscheiden, dabei aber "die geopolitische Situation und Sicherheitsbedenken in Erwägung ziehen". Daraus ziehen die Mitgliedsländer allerdings sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen. Die Kommission will demnächst Richtlinien zu diesem Thema vorlegen.
Deutschland will Deserteuren Asyl gewähren
Die Bundesregierung bejaht prinzipiell einen Asylanspruch für flüchtende Wehrpflichtige aus Russland. "Wer sich dem Regime von Präsident Wladimir Putin mutig entgegenstellt und deshalb in größte Gefahr begibt, kann in Deutschland wegen politischer Verfolgung Asyl beantragen", erklärte Innenministerin Nancy Faeser am vergangenen Wochenende in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".
Das Problem: Nach geltenden Regeln muss ein Asylsuchender seinen Antrag dort stellen, wo er zuerst den Boden der EU betritt. Das sind entweder Nachbarländer oder Staaten, die mit dem Flugzeug erreicht werden können - und seit Kriegsbeginn gibt es keine Direktflüge mehr zu europäischen Zielen. Für Russen ist es also quasi unmöglich, in der Bundesrepublik einen Asylantrag zu stellen.
Schwierige rechtliche Lage
Dazu kommt die juristische Frage: Wenn ein Deserteur mit Gefängnis bedroht wird, ist das eine Verfolgung im Sinne des Asylrechts? Im Handbuch der UN-Flüchtlingsorganisation heißt es, dass die "Angst vor Strafverfolgung und Strafe für Desertion oder Wehrdienstverweigerung allein noch keine begründete Angst vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention darstellt", so der britische Migrationsexperte Colin Yeo auf der Website "Free Movement".
Sollten russische Wehrpflichtige jedoch glaubhaft machen, so der Jurist, dass sie in der Ukraine zu Kriegsverbrechen gezwungen wären, könnte sich daraus ein Schutzanspruch aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergeben. "Das Recht im Zusammenhang mit dem Militärdienst macht es nicht einfach für einen Deserteur, seinen Fall zu beweisen", so Yeo. Auf der einen Seite stünden drohende Kriegsverbrechen - auf der anderen die pauschale Feststellung, dass Deserteure kein Asylrecht genießen.