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Was unsere Zähne alles verraten

Brigitte Osterath
25. Februar 2019

Milchzahn ausgefallen? Zahn gezogen bekommen? Her damit, fordert eine Gruppe Forscher. Sie glauben, aus den Beißerchen Infos über die Träger herleiten zu können – und Erkrankungen vorherzusagen, die erst noch kommen.

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Symbolbild Mädchen Grimasse
Bild: luna/Fotolia.com

Immer brav Zähne geputzt? Ein Blick in den Mund, und schon ist jedem Zahnarzt die Antwort klar. Je schlechter der Gebisszustand desto niedriger ist im Durchschnitt auch der soziale Status des Zahnarztpatienten.

Gleichzeitig sind Zähne wie ein Fingerabdruck: Über einen Gebissabdruck können Forensiker Täter und Opfer an einem Tatort identifizieren. Das wissen wir, seit Inspector Columbo in der bekannten Fernsehserie einen Kaugummi aus einem Mülleimer fischte und so den Fall löste.

Aber jetzt wird es spannend: Forscher behaupten, aus dem Zahnzustand eines Kindes in Zukunft auch lesen zu können, ob dieses ein hohes Risiko hat, einmal eine psychische Erkrankung zu bekommen. Bei älteren Menschen wiederum verraten Zähne möglicherweise, ob sie Schwermetallen ausgesetzt waren und eine hohe Gefahr für Alzheimer besteht.

"Haben wir einen potenziellen Biomarker übersehen, der den Leuten buchstäblich aus dem Mund fällt oder aber gezogen und weggeworfen wird, um schließlich irgendwo auf einer Müllkippe zu landen?" fragt Erin Dunn vom Massachusetts General Hospital in Boston, USA, Epidemiologin für psychiatrische Erkrankungen. Sie findet, dass Zähne, vor allem ausgefallene Milchzähne, sehr viel mehr Aufmerksamkeit bekommen sollten. 

Mehr dazu: Was ist zu tun wenn ein Zahn abgebrochen ist?

Röntgenaufnahme eines Gebisses
Der Zahnschmelz wächst ringförmig. Ist zuviel Streßhormon im Blut verändert das die Dichte. Bild: picture-alliance/BSIP/AJ PHOTO

Stress sieht man am Gebiss

Was Zähne über zukünftige Erkrankungen verraten können, präsentierten Forscher auf einem Treffen der US-Wissenschaftsorganisation "American Association for the Advancement of Science" (AAAS) letzte Woche in Washington DC. Die wichtigste Erkenntnis: Hat ein Kind in den ersten Lebensjahren viel Stress, sieht man das an seinen Zähnen.

Die einzelnen Schichten, die den Zahn aufbauen, etwa im Zahnschmelz, sind dann dünner und weniger dicht, berichtet Thomas Boyce, Gesundheitspsychologe an der University of California at San Francisco. „Der Zahn wird dadurch anfälliger für Karies." Messen kann man diese Änderungen, wenn man einen ausgefallenen Milchzahn im Computertomographen durchstrahlt.

Stress bedeutet übrigens nicht nur Überforderung in der Schule, sondern beispielsweise auch Probleme, die Scheidung der Eltern zu verkraften, ständiger Lärm oder sogar körperlicher und/oder seelischer Missbrauch. Wer viel Stress hat, produziert viel Stresshormon Cortisol. Dessen Konzentration zu einem bestimmten Zeitpunkt kann man im Blut und im Speichel messen, sagt Boyce. 

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"Was wir aber wirklich wissen wollen, anstelle dieser Momentaufnahmen, ist die gesamte Menge an Cortisol, der jemand ausgesetzt ist." Und eben das verraten die Zähne. Offensichtlich beeinflusst das Stresshormon deren Entwicklung.

Stress macht krank

Die "Peers and Wellness Study" untersuchte von 2003 bis 2005 Kinder in 350 Familien in der San Francisco Bay Area. Die Forscher bestimmten bei den ausgefallenen Milchzähnen der Kinder Größe, Fläche, Volumen, Farbe und Schichtdicken. Sie fanden Hinweise darauf, dass bei Kindern mit ADHS und gestörtem Sozialverhalten der Zahnschmelz dünner ist und das innere Zahnmark kleiner als bei dem Rest der Kinder.

"Bisher nutzen wir Speichel, Blut und das Darm-Mikrobiom in Stuhlproben als Biomarker in der Psychiatrie", sagt Erin Dunn. "Zähne sind bisher nur wenig untersucht." Aber sie könnten wichtige Hinweise darauf geben, unter welchen Bedingungen ein Kind seine ersten Lebensjahre verbracht hat.

Viele psychische Erkrankungen sind laut Erin Dunn zu einem großen Teil nicht genetisch verursacht, sondern durch Erfahrungen, die ein Mensch macht – ganz besonders in seinen ersten Lebensjahren. Eben dazu gehört Stress. Etliche Studien zeigen, dass diese Kinder später ein erhöhtes Risiko haben, an posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen oder Essstörungen zu leiden. Warum also bei der Einschulungsuntersuchung nicht von jedem angehenden Schulkind einen ausgefallenen Milchzahn durchleuchten? 

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Ein Neandertaler Gebiss in den Archiven der California State University Northridge
Auch Archäologen können an alten Zähnen allerhand herausfinden. Hier das Gebiss eines Neandertalers. Bild: Getty Images/AFP/E. Dunand

Zähne sind wie Bäume

Zähne bilden sich stufenweise. Milchzähne und bleibende Zähne werden bereits im Embryo angelegt, entwickeln sich dann aber erst nach der Geburt, und zwar unterschiedlich schnell, je nach Position und Funktion der Zähne. Die Milchschneidezähne bilden sich zuerst, Milchbackenzähne sind dagegen erst im dritten Lebensjahr vollständig entwickelt, die letzten bleibenden Zähne im Teenageralter. 

"Zähne zeichnen permanent Stressereignisse auf, die während ihrer Entwicklung geschehen", sagt Erin Dunn. Die Zahnschmelzschichten formten sich in kreisförmiger Weise, ähnlich wie die Alterringe eines Baums. "Zähne verraten uns also nicht nur, OB ein Stressereigniss stattgefunden hat, sondern auch WANN." Das haben Zähne einer Blut- oder Speichelprobe voraus.

Schwermetalle lagern sich ein

Sind während der Zahnbildung Schwermetalle wie Blei anwesend, werden sie in den sich entwickelnden Zahnschmelz eingelagert. Das zeigten im Jahr 2005 Forscher von der University of California at Irvine an Ratten. Beim Menschen passiert vermutlich dasselbe.

Menschen, die vor oder kurz nach ihrer Geburt hohen Bleikonzentrationen ausgesetzt sind, haben ein höheres Risiko später schizophren zu werden, zeigten US-Forscher im Jahr 2017. Die Bleibelastung wiesen diese Forscher an den ausgefallenen Milchzähnen nach, die ihre Probanden aufbewahrt hatten.

Marc Weisskopf, Neurobiologe und Epidemiologe an der Universität Harvard in Boston, vermutet, dass hohe Bleikonzentrationen auch das Risiko für Alzheimer erhöhen könnten. Eine Theorie besagt, dass Schwermetalle die Bildung von Amyloid-Plaques im Gehirn begünstigen, die typisch für Alzheimer sind. Ob das stimmt, untersucht er derzeit an über 400 Probanden zusammen mit einer Klinik für ehemalige Soldaten. 

Wenn dort einem Patienten ein Zahn gezogen wird, nehmen sich die Forscher dem wertvollen Teil an. Stirbt ein Patient, geht gleich ein ganzes Gebiss an die Wissenschaft – mit Einwilligung des Patienten natürlich.

Noch steht die Forschung in punkto Zähne als Vorhersagewerkzeug für spätere Erkrankungen noch recht am Anfang. Vieles ist unklar, Studien gibt es nur wenige. Aber eines machten die Forscher auf dem AAAS Meeting in Washington überzeugend klar: Ausgefallene Zähne sind viel zu schade, um als Erinnerungsstücke in irgendeinem Schrank zu verschwinden.