Was wir von Juden lernen können
11. April 2024"Es wird viel über Juden gesprochen, es wird viel über Juden geschrieben, aber keiner weiß irgendetwas über Juden", sagt Mirna Funk. Die 43-jährige Berliner Journalistin und Schriftstellerin wuchs selbst ohne jüdische Traditionen auf, erzählt sie der DW. Doch mittlerweile hat sie sich kundig gemacht über das Judentum und die wichtigsten Lehrsätze in ihrem Buch "Von Juden lernen" zusammengestellt.
Der Auftrag: die Welt verbessern
Mirna Funk steht unter der Dusche und hadert mit dem Leben - Krieg in der Ukraine, zu wenig Geld auf dem Konto, kein Lover in Sicht, könnte Gott da nicht etwas drehen? Jammern allerdings widerspricht dem jüdischen Gebot "Tikkun Olam" - was so viel heißt wie: die Welt reparieren. Während Christen geduldig auf die Rückkehr des Messias beim Jüngsten Gericht warten, der ihnen dann das Paradies bringt, ist im Judentum Eigeninitiative gefragt: Gott erwarte Aktivität, nicht ein passives Erstarren und den illusorischen Glauben daran, dass die Dinge schon irgendwie laufen werden, erläutert Mirna Funk.
Also heißt es anpacken, um diese Welt zu verbessern. Das Paradies auf Erden allerdings sei ein utopischer Wunsch. "Menschen haben immer positive und negative Eigenschaften, dementsprechend können sie diese Welt auch nicht zu einem paradiesischen Ort machen." Aber man kann zumindest versuchen, sein Bestes zu geben.
Hilfe zur Selbsthilfe
Die Welt besser zu machen, bedeutet auch, anderen zu helfen, wenn sie Hilfe brauchen. "Es ist keine Tugend, sondern eine Pflicht", schreibt Mirna Funk. "Zedaka" heißt sie auf Hebräisch, was sowohl Gerechtigkeit als auch Wohltätigkeit bedeuten kann. Almosen zu geben ist die niedrigste Stufe der Zedaka. Das eigentliche Ziel ist es, bedürftige Menschen in Arbeit zu bringen, damit sie nicht von anderen abhängig sind. Insofern hat Mirna Funk auch wenig Verständnis dafür, wenn heute in Deutschland von manchen ein bedingungsloses Grundeinkommen gefordert wird. Sie plädiert für Eigenverantwortung: "Es ist wichtig, Menschen nicht in Abhängigkeit und Unfreiheit zu lassen, indem man sie durch finanzielle Hilfen in ihrer eigenen Selbstständigkeit beschränkt."
Schon Eva war ungehorsam
Im Christentum ist Eva schuld an der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies. Sie aß gegen den Willen Gottes einen Apfel vom Baum der Erkenntnis und verführte auch Adam dazu. Für Mirna Funk ist Eva eine Rebellin.
Widerspruch auszuhalten ist ein Grundpfeiler der jüdischen Tradition, die auf Dialog setzt und den anderen nicht verteufelt, wenn er anderer Meinung ist. Das gilt auch für die Partnerschaft. Man dürfe nicht versuchen, sich möglichst ähnlich zu werden, denn: "Keine Bewegung ohne Reibung. Keine Entwicklung ohne Kritik", so Funk.
Und weil die Frau eben keine Ja-Sagerin ist, nimmt sie im Judentum nicht die Rolle der gehorsamen Gefährtin ein. Vor mehr als 3000 Jahren schrieb König Salomon das Gedicht "eshet chayil", das übersetzt "tapfere Frau" bedeutet und noch heute am Schabbat gesungen wird. "In diesem Loblied kümmert die Frau sich um die Kinder, backt und kocht, aber gleichzeitig hat sie ein eigenes Geschäft", sagt Funk. "Sie ist stark, sie ist mutig, sie ist tapfer."
Diese Frauenbild prägt die jüdische Gemeinschaft. "In Israel gab es schon in den 70er-Jahren eine Premierministerin, Golda Meir, so Funk. "Als in Westdeutschland Frauen noch nicht mal ein eigenes Konto eröffnen durften, hatte Israel schon eine Politikerin, die das Land geführt hat."
Wie lässt sich dieses Selbstbewusstsein mit dem Bild der züchtig gekleideten jüdischen Frau mit Perücke vereinbaren, die ihrem Mann Gehorsam schuldet und vor allem möglichst viele Kinder kriegen soll? Das seien Orthodoxe und Ultraorthodoxe, und sie machten den kleinsten Teil der jüdischen Weltbevölkerung aus, sagt Mirna Funk. "Das ist einfach eine sektenähnliche Absplitterung, und die gibt es in jeder Religion. Es wird viel über sie geschrieben, aber für mich sind sie nicht relevant, weil sie für das Judentum keine große Rolle spielen."
Das Recht auf guten Sex
Frauen haben das Recht auf guten Sex, so steht es in der Thora. Der jüdische Gelehrte Maimonides (1138-1204) brachte es zu Papier: "Ein Mann hat die Pflicht, seine Frau in sexuellen Angelegenheiten zu befriedigen." Tat er das nicht, hatte sie das Recht, sich scheiden zu lassen. Die Sexualität der Frau war im Judentum also nie tabuisiert, Keuschheit wurde nicht zum Ideal erhoben wie im Christentum. "Yada" bedeutet sexuelle Vereinigung - "einander erkennen und durch den Akt auch die Beziehung zu Gott einzugehen".
Von Federn im Wind und Shitstorms
In einer bekannten jüdischen Erzählung verbreitet ein Mann Lügen über eine andere Person, bekommt ein schlechtes Gewissen und geht zum Rabbiner. "Was soll ich bloß tun", fragt er? Der Rabbi rät ihm, ein Kissen aufzuschlitzen und alle Federn dem Wind zu übergeben. Der Mann hält sich an die Anweisung und wird wieder beim Rabbiner vorstellig. "Und nun sammle alle Federn wieder ein", fordert der ihn auf. "Unmöglich!", ruft der Mann. "Siehst du", antwortet der Rabbi, "das ist wie mit den Gerüchten, die du über eine andere Person verbreitest. Du kannst sie niemals wieder rückgängig machen."
Genau deswegen gilt üble Nachrede - "lashon hara" - im Judentum als schwere Sünde, schlimmer als Mord. Heute heißt dieses allzu menschliche Phänomen Shitstorm und er sei, so schreibt Funk, "mittlerweile kein Ausnahmephänomen mehr, sondern die Regel. "Er zeigt auf erschreckende Weise, dass die Meinung eines anderen nicht anerkannt wird, sobald sie nicht der eigenen entspricht", so Funk. "Derjenige, der dem Shitstorm ausgesetzt ist, wird diffamiert und entwürdigt." Ein Dialog hat in dieser polarisierten Sichtweise keine Chance mehr, denn "was den Shitstorm ausmacht, ist die totalitäre Verneinung von Andersartigkeit".
Das Judentum lehnt diese Sichtweise ab, die Welt wird nicht ideologisch in Gut und Böse eingeteilt. Statt den anderen zu verdammen, soll man lernen, richtig zu streiten: "Machloket" gilt als Methode zur Erkundung unterschiedlicher Perspektiven und wird als Zeichen von Engagement und Respekt betrachtet. Im aktuellen gesellschaftlichen Klima, so Funk, sei die differenzierte Sichtweise verloren gegangen.
Im Dialog mit der Vergangenheit
Der amerikanisch-jüdische Schriftsteller Elie Wiesel sagte einmal: "Jüdisch zu sein, bedeutet zu erinnern." Doch heute, so Funk, sei das anders: Wir lebten in einer geschichtsvergessenen Zeit, in der der Fokus auf dem Jetzt liege. "Wenn seit dem 7. Oktober 2023 verstärkt Begriffe wie Apartheid, Genozid, ethnische Säuberungen und Kolonialmacht auf Israel angewendet und als Wahrheit verkauft werden, dann offenbart sich ein absolut unzulängliches Geschichtsverständnis."
Derzeit, so stellt sie fest, politisiere sich eine sehr junge Generation und stelle sich gegen Israel. "Begriffe, die schon aufgeladen sind mit Geschichte, so wie Apartheid, lösen sofort Emotionen im anderen aus." Was sie besonders erschreckt: "Jetzt werden auch deutsche oder europäische Juden angegriffen wegen dieses Krieges." Um so wichtiger sei es, die Vergangenheit nie zu vergessen, sondern mit ihr in Dialog zu treten und daraus eine bewusste Zukunft zu kreieren.
Aktuell wie eh und je
"Was das Judentum so besonders macht, sind die Flexibilität und der Mut zum Zweifel", erklärt Mirna Funk. Das sei den Rabbinern zu verdanken, die sich von überholten Traditionen verabschiedet und die Regeln und Gesetze immer wieder der Moderne angepasst hätten. Zudem drehe sich das Judentum nicht nur um metaphysische Fragen, sondern denke immer auch an das Dilemma der menschlichen Existenz. "Das sind alles Gründe, warum die meisten Juden, die ein säkulares Leben leben, sich dennoch mit ihrer Religion identifizieren können."
Für sie hat Funk dieses Buch geschrieben - und für alle, denen beim Stichwort Juden zuerst die Begriffe Holocaust, Antisemitismus oder der arabisch-israelische Konflikt in den Sinn kämen, "so als sei das alles, was jüdisches Leben oder jüdische Kultur oder Jüdischsein ausmacht". Dass es viel mehr ist, wird in dem Buch von Mirna Funk eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Buchtipp: Mirna Funk: Von Juden lernen. dtv 2024