Weit mehr Missbrauchsfälle bei Jesuiten
27. Mai 2010Seit Bekanntwerden von Missbrauchsfällen am Berliner Jesuiten-Kolleg im Januar hätten sich 205 Opfer sexueller Gewalt beim Orden gemeldet, teilte die Berliner Rechtsanwältin Ursula Raue mit, die die Verdachtsfälle im Auftrag des Ordens untersuchte. Die Vorwürfe richteten sich gegen zwölf Patres, von denen bereits sechs verstorben seien, und zwei weltliche Mitarbeiter, sagte Raue am Donnerstag (27.05.2010) in München. Während diese von jeweils mehreren Personen als Täter oder Mitwisser genannt wurden, wurden 32 weitere Personen – Patres und Mitarbeiter – von je einer Person konkreter Taten oder der Mitwisserschaft beschuldigt.
Die Übergriffe ereigneten sich demnach vor allem zwischen den 60er und 80er Jahren. Betroffen sind neben der Berliner Einrichtung die Schulen St. Ansgar in Hamburg, St. Blasien im Schwarzwald, das Aloisiuskolleg in Bonn sowie die ehemalige Jesuiteneinrichtung Immaculata im westfälischen Büren.
Täterkarrieren nicht behindert
Mit Blick auf das Verhalten des Ordens sprach Raue von einem "System, das Täterkarrieren wenn nicht beförderte, so doch nicht hinreichend behinderte". Die betreffenden Personen seien lediglich versetzt und "verschoben" worden, kritisierte die Missbrauchsbeauftragte.
Die Beauftragte sagte, bei den Vorwürfen handele es sich häufig um eine Mischung aus sexuellem Missbrauch und körperlicher Gewalt. So hätten Schüler davon berichtet, dass Patres offensichtlich sexuell erregt gewesen seien, während sie geprügelt hätten.
Neben den Fällen in Jesuiten-Einrichtungen prüfte Raue weitere 50 Eingänge, die sich auf andere – meist katholische Einrichtungen beziehen. Die Beauftragte betonte, dass mit dem Bericht noch nicht alle Ermittlungen abgeschlossen seien. Noch immer meldeten sich Betroffene bei ihr.
Ordensführer der Jesuiten entschuldigt sich
Der Provinzial des Jesuitenordens, Pater Stefan Dartmann, sprach von einer "skandalösen Wirklichkeit", die dem Orden "zu Scham und Schande gereicht". Er kritisierte zudem "Geisteshaltungen, die nicht nur bei einzelnen, sondern unbestreitbar in weiten Kreisen des Ordens verbreitet waren und vielleicht noch sind." Dazu zähle er die nicht vorhandene Opferperspektive sowie die primäre Sorge um den Ruf des Mitbruders oder des Ordens. Aus falscher Loyalität zum Täter hätten auch die Mitwisser weggeschaut und geschwiegen. Täter seien geräuschlos verschoben worden, wobei die aufnehmenden Einrichtungen nur wenige Informationen erhalten hätten.
Den Abschlussbericht bezeichnete Dartmann als "wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Aufklärung" und betonte, dass dieser "kein Schlusspunkt" sei. Erneut bat der Pater die Opfer um Verzeihung und dankte ihnen dafür, "dass sie das Schweigen gebrochen, ihre Stimme erhoben und ihnen zugefügte Unrecht beim Namen genannt, ja bisweilen herausgeschrien haben". Zugleich bot der Pater an, jedes Opfer persönlich um Entschuldigung zu bitten sowie Gespräche zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zu vermitteln.
Zurückhaltung in der Entschädigungsfrage
Zu möglichen finanziellen Entschädigungen, die mehrere Opfer fordern, äußerte sich der Jesuitenprovinzial zurückhaltend. Bezüglich einer pauschalen Entschädigung wollten die Jesuiten dem Ergebnis der Beratungen des Rundes Tisches der Bundesregierung nicht vorgreifen. Zudem ging Dartmann auch auf seine Verantwortung als Provinzial gegenüber den Tätern ein und sagte: "Sie gehören zu uns, und wir werden sie nicht aus unserer Gemeinschaft verstoßen."
Ob es über die die bereits eingestellten Verfahren hinaus weitere staatsanwaltschaftliche Ermittlungen geben werde, bleibe abzuwarten. Was die noch lebenden Täter betreffe, sei ein kirchliches Verfahren eingeleitet worden. Es sei nun Aufgabe des der Vatikan, über mögliche Konsequenzen für die betroffenen Priester zu entscheiden.
Autor: Reinhard Kleber (epd, dpa, kna, apn, afp)
Redaktion: Hajo Felten