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Politik

Welchen Brexit wollen die Briten?

Nina Niebergall
8. Juni 2017

"Brexit bedeutet Brexit" - diesem Mantra wollen beide Spitzenkandidaten in Großbritannien treu bleiben. Doch der Wahlausgang wird die Verhandlungen über den EU-Austritt noch einmal heftig durcheinanderwirbeln.

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Großbritannien Symbolbild Brexit, EU-Flagge in London
Bild: picture-alliance/dpa/A. Mcnaught

Eigentlich wollte die regierende Premierministerin Theresa May die Neuwahlen nutzen, um sich im Vereinigten Königreich eine stabile Mehrheit zu sichern. Sie wollte gestärkt in die Brexit-Verhandlungen mit Brüssel gehen. Als sie im April überraschend Neuwahlen ausrief, schien es, als ginge Mays Rechnung auf. Mit sehr guten Umfragewerten startete sie in den Wahlkampf. Doch seitdem schrumpft der Vorsprung ihrer konservativen Tories gegenüber der sozialdemokratischen Labourpartei mehr und mehr.

Nun müssen die Briten entscheiden, wer für sie den Austritt aus der Europäischen Union verhandeln soll. Je nachdem, wie die Parlamentswahl an diesem Donnerstag ausgeht, sind mehrere Szenarien denkbar.

Szenario 1: Knapper Vorsprung für May

"Die Frage ist, ob ihre Mehrheit so stabil sein wird, dass sie in den Brexit-Verhandlungen besser manövrieren kann", sagt Andrew Duff von dem Brüsseler Denkfabrik "European Policy Centre". Der Brite saß bis 2014 für die Liberaldemokraten im Europäischen Parlament. Derzeit sagen die Umfragen eher das Gegenteil voraus. Demnach wird May ihren Posten zwar verteidigen, allerdings nur knapp. "Das wird eine problematische Situation noch schlimmer machen", prognostiziert Duff. Wenn May Ende Juni zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs nach Brüssel reist, habe sie eine schwierige Aufgabe zu bewältigen: "Sie muss Merkel, Macron und den anderen erklären, was sie genau will. Wenn sie aber keine Kontrolle über das Unterhaus oder über die konservative Partei hat, wird das sehr schwierig."

David Davis und Boris Johnson
May-Rivalen Davis und Johnson: Vertreter einer harte VerhandlungspositionBild: Picture alliance/dpa/Pa/PA Wire

Denn Mays Gegenspieler stehen schon in den Startlöchern: Außenminister Boris Johnson und Brexitminister David Davis vertreten gegenüber Brüssel eine harte Verhandlungsposition. Im Falle eines knappen Wahlsiegs würden sie die Premierministerin vermutlich weiter unter Druck setzen. Genau das wollte May ursprünglich verhindern.

Auch für Brüssel wäre der Ausgang der Verhandlungen in einem solchen Szenario mehr als ungewiss. So könnten die Flügelkämpfe bei den Tories den ohnehin schon knapp bemessenen Zeitrahmen bis zum anvisierten EU-Austritt im März 2019 in Gefahr bringen. Finden London und Brüssel bis dahin keine Einigung, würden die Briten ganz ohne Abkommen aus der EU scheiden.

Szenario 2: May geht gestärkt aus der Wahl hervor

Was aber, wenn May doch noch ein Last-Minute-Sieg gegen die Labourpartei unter Jeremy Corbyn gelingt? Bei den letzten Abstimmungen im Vereinigten Königreich waren die Umfrageergebnisse nicht besonders zuverlässig. So könnte es auch diesmal anders ausgehen als erwartet. "Wenn sie eine große Mehrheit hat, wird die politische Rechte sie nicht so in die Enge treiben können", meint der Brüsseler Experte Andrew Duff. Das bedeute mehr Klarheit für ihre Verhandlungsposition.

Jeremy Corbyn und Theresa May (Getty Images)
Spitzenkandidaten Corbyn und May: Wer verhandelt Großbritanniens Austritt aus der EU?

Auch die EU wüsste dann immerhin, mit wem sie es zu tun hätte: Einer harten Verhandlungsgegnerin, die standhaft ihre Positionen vertritt. So hatte May an die Adresse des EU-Kommissionspräsidenten gewarnt: "Juncker wird mich als verdammt schwierige Frau kennenlernen". Mehrmals stellte sie klar, dass sie die Verhandlungen notfalls platzen lassen werde - frei nach dem Motto: "No deal is better than a bad deal" - Keine Vereinbarung ist besser als eine schlechte.

Szenario 3: Corbyn gewinnt die Wahl

Das sieht Mays ärgster Kontrahent anders. So betonte Labourkandidat Corbyn im Wahlkampf: "Kein Deal wäre in Wirklichkeit der schlechteste Deal von allen". Darüber hinaus haben Großbritanniens Sozialdemokraten allerdings eher vage und widersprüchliche Vorstellungen davon, wie sie im Falle eines Wahlsiegs in die Brexit-Verhandlungen ziehen wollen. So hat Labour vor, weiterhin im Binnenmarkt zu bleiben, nachdem Großbritannien aus der EU ausgetreten ist. Doch das würde mit dem Vorhaben kollidieren, den freien Zuzug von EU-Bürgern auf die britische Insel zu stoppen - was sowohl Labour als auch Tories fordern. Die Brüsseler Position ist in diesem Punkt klar: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wenn die Briten raus aus der EU wollen, dann mit allen Konsequenzen.

Für den britischen EU-Experten Andrew Duff wäre ein Wahlsieg Corbyns ein "Desaster". Labour sei - ebenso wie die Tories - über der Frage gespalten, wie Großbritannien nach einem Austritt aus der EU aussehen solle, meint er. Nur habe Corbyn zusätzlich "keine Ahnung", was das in der Praxis bedeute. Tatsächlich gilt Corbyn als EU-Muffel, der die Idee der Gemeinschaft zwar nicht grundsätzlich infrage stellt, sie aber als neoliberales Projekt beargwöhnt. Während der Referendumskampagne schloss sich Corbyn dann auch nur zögerlich und leidenschaftslos dem "Remain"-Lager an. Für diese Ziellosigkeit steht er innerhalb seiner Partei noch immer in der Kritik.

Auch in Brüssel weiß vermutlich niemand, was von einem Premierminister Corbyn zu erwarten wäre. Laut Duff gibt es vonseiten der EU keinen Plan für dieses Szenario. "Weder innerhalb der Labourpartei noch in Brüssel bereitet sich irgendjemand darauf vor", sagt er. "Es wäre ein heilloses Durcheinander."

Szenario 4: Die Hängepartie

Im britischen Mehrheitswahlrecht unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen: Entscheidet keine der Parteien die Wahl klar für sich, muss eine Koalition gebildet werden. Theoretisch wäre auch eine Minderheitsregierung denkbar, die auf wechselnde Partner im Parlament angewiesen ist. Ein solches "hung parliament" gab es bislang erst einmal, nämlich unter dem ehemaligen Premierminister David Cameron. Nichtsdestotrotz hegt manch ein Börsenanalyst die Hoffnung auf eine gemeinsame Regierung von Linken und gemäßigten Kräften. Davon versprechen sie sich einen sanfteren Brexit.

In der Praxis stehen die Chancen dafür eher schlecht. Denn die Liberaldemokraten wollen weder mit den Konservativen noch mit Labour eine Koalition bilden, die schottischen Nationalisten nicht mit den Tories. Experte Andrew Duff kommentiert diese Möglichkeit ohnehin wenig hoffnungsfroh. Er ist sich sicher: Eine Koalition bedeute schlicht "Chaos".