Weniger Visa für Menschen aus der Türkei
25. August 2022Das Ferienhaus in den Niederlanden war gebucht, die Tiefkühltruhe zuhause in Gelsenkirchen war gefüllt, sogar das Lieblingsbier der Schwester und des Schwagers war bestellt. Denn anstatt eine Türkei-Reise zu buchen, hatte die Lehrerin Yagmur Aslan wegen ihrer Schwangerschaft in diesem Sommer ihre Schwester Adalet und deren Mann Arif zu sich eingeladen. "Wir haben uns unfassbar gefreut", sagt sie.
Umso größer war die Enttäuschung, als Yagmur Aslan erfuhr, dass Schwester und Schwager kein Visum bekommen. Im Ablehnungsbescheid schrieb die Visa-Abteilung der deutschen Botschaft in Ankara: "Es bestehen begründete Zweifel an Ihrer Absicht, vor Ablauf des Visums aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auszureisen."
"Unsinn!", sagt Yagmur Aslan. "Adalet und Arif sind Lehrer, haben eine feste Bindung an die Türkei, verfügen über ein eigenes Heim und wollten nur für drei Wochen nach Deutschland." Nach ihren Angaben wurde alles richtig gemacht: In Deutschland reichte Familie Aslan alle Unterlagen bei der Ausländerbehörde ein, die erforderlich waren, um eine Verpflichtungserklärung abgeben zu können - eine Art Bürgschaft für die Besucher.
Diese Verpflichtungserklärung schickten sie in die Türkei. Dort reichte die Schwester die Erklärung bei einer Firma ein, die im Auftrag der deutschen Botschaft die Visumanträge entgegennimmt - zusammen mit vielen weiteren Nachweisen: Grundbucheintrag, Steuerbescheide, Einkommensnachweise, Kontoauszüge, Sparbucheinträge und mehr. Auch die Bearbeitungs- und Visagebühren bezahlten die beiden. "All die Mühe war umsonst", so Yagmur Aslan.
Kein Einzelfall
Der Fall von Familie Aslan ist keineswegs eine Ausnahme. Im Netz machen viele genervte Türkinnen und Türken ihrem Ärger Luft. Auch bei der DW melden sich viele Studierende, Kunstschaffende und Geschäftsleute aus der Türkei und Deutschland. Sie reden von "Willkür der deutschen Beamten".
Die Begründungen der deutschen Auslandsvertretungen lassen für diesen Vorwurf viel Raum, denn als Grund wird oft angegeben, dass der Reisezweck nicht überzeugend sei und an der Rückkehr gezweifelt werde.
Süleyman Urebe, ein vom Erasmus-Programm der EU geförderter Student, berichtet beispielsweise, dass sein Visumantrag trotz vollständiger Unterlagen abgelehnt worden sei. Er habe sogar eine Bürgschaft aus Deutschland vorgelegt, obwohl dies für ein Erasmus-Visum gar nicht notwendig sei. Die Vergabepraxis sei eine Missachtung des Erasmus-Programms und zerstöre die Träume junger Menschen, meint Urebe.
Die junge Galeristin Esengül Celik ist ebenfalls enttäuscht von den deutschen Behörden. Sie wollte zu Documenta nach Kassel, aber auch ihre Bemühungen waren vergeblich.
Messe-Teilnahme muss ausfallen
Ein Geschäftsmann schrieb der DW, dass drei seiner fünf Mitarbeiter dieses Jahr kein Visum erhalten haben und folglich eine Teilnahme an der Messe Düsseldorf nicht zustande kam. Bisher sei seine Firma immer in Düsseldorf vertreten gewesen und seine Mitarbeiter hätten immer problemlos Visa bekommen.
Der bekannte Dokumentarfilmer Ümit Kivanc berichtet von einer Gedenkfeier eines verstorbenen Freundes in Hamburg, an der auch eine Künstlergruppe aus der Türkei teilnehmen wollte. Zwei von ihnen erhielten keine Visa, somit sei die Reise geplatzt.
Steigende Ablehnungsquote
Auch die Zahlen des Auswärtigen Amtes belegen, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Anträge türkischer Staatsbürger von deutschen Auslandsvertretungen abgelehnt wurden. 2014 wurden in deutschen Visa-Stellen in der Türkei mehr als 197.000 Anträge bearbeitet. Die Ablehnungsquote lag bei 5,9 Prozent. 2021 waren es wegen der Pandemie nur rund 129.000 Anträge. Die Ablehnungsquote nahm dagegen drastisch zu und lag bei 19 Prozent. In der ersten Hälfte dieses Jahres stieg sie weiter auf mehr als 20 Prozent.
Insider vermuten, dass die ungünstige wirtschaftliche und politische Lage des Landes eine negative Rolle bei der Visavergabe spielt. Galoppierende Inflation, hohe Arbeitslosigkeit und massive Menschrechtsverletzungen seien "keine optimalen Voraussetzungen für Visa", sagt ein erfahrener Wirtschaftsjournalist, der anonym bleiben möchte. Auch seine Reise nach Berlin konnte er nicht antreten. "Unsere Reisefreiheit wird wegen der falschen Politik unserer Regierung beschnitten", so der Journalist.
Rückgang auch anderswo
Nicht nur Deutschland, auch andere Schengen-Staaten erteilen türkischen Staatsbürgern immer weniger Visa. Einem Bericht des AKP-Abgeordneten Ziya Altunyaldiz zufolge wurden 2014 nur vier Prozent der Anträge türkischer Staatsbürger von Schengen-Staaten abgelehnt. 2020 habe sich dies mehr als verdreifacht.
Dem Portal schengenvisainfo.com zufolge, das Daten über Schengen-Visa sammelt, erreichte die Ablehnungsquote im vergangenen Jahr sogar die 19-Prozent-Marke. Das Schengen-Visum ermöglicht es, sich in den 26 Ländern des Schengen-Raumes, also dem Großteil der EU, frei zu bewegen.
Der Vorsitzende des türkischen Reiseverbandes TÜRSAB, Firuz Baglikaya, berichtete diese Woche von starken Umsatzeinbußen und Unsicherheiten der Branche wegen der aktuellen Visa-Vergabepraxis. Diese gefährde inzwischen die Existenz vieler türkischer Reiseveranstalter.
Außerdem verschärfe die Nicht-Rückerstattung der Visagebühren die Lage und bringe die Kunden gegen die Reiseveranstalter auf, so Baglikaya. Denn die Visagebühr von 80 Euro wird bei einer Ablehnung nicht rückerstattet. Schengenvisainfo.com schätzt den dadurch entstandenen Verlust für türkische Antragsteller in den vergangenen fünf Jahren auf 26 Millionen Euro.
Auch der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kritisierte die hohe Ablehnungsquote: "Das machen sie vorsätzlich und absichtlich." Dies solle die AKP-Regierung vor den Wahlen im Jahr 2023 in Schwierigkeiten bringen. Cavusoglu kündigte an, in den kommenden Tagen die Botschafter ins Ministerium zu bestellen und drohte mit Gegenmaßnahmen, sollte sich die Lage nicht verbessern.
Ablehnungsgründe nicht erfasst
Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes teilt auf Anfrage der DW mit, dass über Visumanträge die Auslandsvertretungen in jedem Einzelfall nach Maßgabe der geltenden aufenthaltsrechtlichen Vorschriften und sorgfältiger Prüfung aller Umstände entscheiden. Eine statistische Erfassung der Ablehnungsgründe erfolge nicht. Die Prüfung umfasse unter anderem auch die Rückkehrabsicht, die grundsätzlich durch finanzielle und familiäre Verwurzelung nachgewiesen werden könne.
"Dann kann ich die Ablehnung meiner Schwester gar nicht nachvollziehen", sagt die Lehrerin Yagmur Aslan aus Gelsenkirchen - schließlich habe man all solche Belege für die Rückkehrabsicht beigebracht. "Warum wurden ihr und ihrem Mann dann keine Visa erteilt?" Gegen den Ablehnungsbescheid hat die Familie Widerspruch eingelegt, sagt sie. "Auch wenn der Sommer vorbei ist, bestehen wir darauf, dass dieses Unrecht korrigiert wird."