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Essen als Sucht

Kathrin Witsch19. April 2013

Bei einer Heißhungerattacke haben sie nur einen Gedanken: Essen. Binge-Eating-Disorder ist eine Essstörung, die zwar weniger bekannt ist als Bulimie oder Magersucht, an der aber weitaus mehr Menschen leiden.

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Junge Frau isst einen Hamburger (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Belegte Brötchen, Brezeln, Laugenstangen, Teilchen... Hauptsache herzhaft und soviel wie möglich. Wenn Sandra eine Heißhungerattacke bekommt, schaufelt sie tausende Kilokalorien innerhalb weniger Minuten in sich hinein. Ob sie Hunger hat oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Sie isst, bis nichts mehr reinpasst, bis es ihr gut geht. Aber das Glück ist nur von kurzer Dauer. Denn wenn sich die nächste Essattacke ankündigt, geht sie schon wieder zum nächsten Imbiss um einzukaufen. Dass Sandra nicht alles schaffen wird, weiß sie zwar schon vorher, aber der innere Druck ist so groß, dass sie erst ruhiger wird, wenn sie soviel wie möglich heruntergeschlungen hat.

Sandra leidet an der sogenannten "Binge-Eating-Disorder". Das Wort "to binge" kommt aus dem Englischen und bedeutet soviel wie "Gelage". Etwa 15 Prozent aller Essgestörten sind Binge-Eater. Trotzdem ist die Esssucht weit weniger bekannt als beispielsweise die Magersucht. Die Ursachen und Auslöser sind aber oft die gleichen: Die Betroffenen verknüpfen Essen mit Gefühlen. Sie versuchen Druck abzubauen, eine innere Leere zu füllen. Im Gegensatz zu Bulimikern und Magersüchtigen ergreifen Binge-Eater jedoch keine Maßnahmen zur Gewichtskontrolle wie Erbrechen oder Sport. Die Betroffenen leiden unter Essanfällen, oft mehrmals pro Woche. Während eines solchen Anfalls verschlingen sie ohne Kontrolle große Mengen in kurzer Zeit.

Für Binge-Eater wird Essen zur Sucht. Mit Hunger, Appetit oder Genuss hat das wenig zu tun: "Das fühlt sich an wie ein Kick. Andere gehen ein Bier trinken und ich renne zum Kühlschrank. Das kommt manchmal aus dem Nichts raus, und dann wirst du unruhig. Das ist fast wie ein Drogensüchtiger. Wenn du so vor dich hinfutterst, irgendwas beruhigt dann innen drin", erzählt Sandra.

Binge-Eating-Disorder ist ein Teufelskreis

Aber schon kurz nach dem Anfall ist das beruhigende Gefühl vergangen. Was bleibt, ist Scham, Reue und Frust. Und weil sie nicht anders können, ersticken Binge-Eater diese negativen Gefühle wieder und wieder mit Unmengen an Essen. Ohne Hilfe lässt sich dieser Teufelskreis kaum durchbrechen.

Abnehmen allein ist keine Lösung, denn was nach außen hin mit geringer Selbstbeherrschung und Völlerei abgetan wird, hat fast immer psychologische Ursachen, weiß Astrid Helesic, Oberärztin der Abteilung für Essstörungen an der Rheinklinik Bad Honnef: "Grundsätzlich ist das wie jede andere Sucht auch ein kompensatorisches Verhalten. Man versucht, etwas damit wegzudrücken. Die Patienten sind sich häufig nicht bewusst darüber, was das genau ist. Oft hat es etwas mit ihrem Selbstwertgefühl zu tun. Oder es stellt sich heraus, dass in der Vergangenheit erlebte Traumata nicht richtig verarbeitet worden sind."

Astrid Helesic (Foto: DW)
Astrid Helesic, Oberärztin RheinklinikBild: DW/K. Witsch

Sandra wird seit Oktober 2012 von Helesic behandelt. Sie hat inzwischen erkannt: "Ich habe nie richtig essen gelernt und ich weiß mittlerweile auch, dass ein Trauma in der Kindheit zu meinem gestörten Essverhalten geführt hat, und das muss ich jetzt verarbeiten."

Eine Magen-OP ist keine Therapie

Etwa 40 Prozent der Betroffenen sind adipös, also fettleibig, aber nicht jeder Übergewichtige ist ein Binge-Eater. Hauptmerkmal sind die wiederholten Essanfälle. Hinzu kommen: ein sehr negatives Körperbild, Einschränkungen im Sozialverhalten und eine Neigung zu psychischen Störungen wie Depressionen. Auch Sandra muss feststellen, dass die Binge-Eating-Disorder sie mittlerweile durch ihr Übergewicht im Alltag stark einschränkt. Sie bringt 134 Kilogramm auf die Waage, und das hat Folgen: "Das fängt im Haushalt an, dass du dich nach dem Putzen anhörst wie eine Dampflok. Mir tut ständig alles weh, ich kann keinen Sport mehr machen." Andere Folgeerkrankungen können Diabetes, Bluthochdruck oder Asthma sein.

Nach zwei Jahren psychosomatischer Behandlung will Sandra deswegen jetzt auch gegen ihr Übergewicht kämpfen. Weil es ihr aber nicht gelingt, auf konventionellem Wege abzunehmen, hat sie sich für eine Magen-OP entschieden. Bei der sogenannten Magenschlauchoperation werden fast drei Viertel des Magens entfernt. Der Rest wird dann zu einem Schlauch geformt. Dadurch werden die Patienten schneller und länger satt.

Die Operation helfe aber nur, das Übergewicht in den Griff zu bekommen und lasse nicht automatisch die Essstörung verschwinden, betont Dr. Min-Seop Son vom Johanniter-Krankenhaus in Bonn, der Sandra in fünf Monaten operieren wird: "Die Operation selbst ist keine Therapie der Binge-Eating-Störung. Die Operation ist letztendlich eine Therapie der Adipositas, und die Binge-Eating-Störung führt in aller Regel zu einer Adipositas. Die eigentliche Therapie der Binge-Eating-Störung ist die Psychotherapie. Deshalb ist der wichtige Punkt, dass die Patienten behandelt sind, und weiter psychotherapeutisch behandelt werden - auch nach der Operation."

Dr. Min-Seop Son (Foto: DW)
Min-Seop Son, Oberarzt Johanniter-KrankenhausBild: DW/K. Witsch

Mehr Bewusstsein für diese Essstörung

Nach der Operation hat Sandra die Chance auf ein völlig neues Leben. Aber nur, wenn sie ihre psychotherapeutische Behandlung fortsetzt und sich an das hält, was sie in der Ernährungsberatung gelernt hat, kann sie ihre Essstörung in den Griff bekommen. Allein der Gedanke an die Zeit nach dem Eingriff löst in Sandra die absolute Lebensfreude aus. Endlich wieder aktiv sein, wieder klettern, so wie früher. Es war ein langer Weg bis hierhin. Aber Sandra muss lernen, auch in Zukunft über ihre Probleme zu reden, anstatt sie - im wahrsten Sinne des Wortes - runterzuschlucken.