Krieg in Kobane
24. Oktober 2014Erdal hockt vor einem Teehaus und starrt auf sein Handy. Er hat die schwarze Baseball-Kappe tief ins Gesicht gezogen, die Sonne blendet seine müden Augen. Der junge Kurde hat seit Tagen kaum geschlafen. Jede Nacht versucht er, sich heimlich über die Grenze nach Syrien durchzuschlagen. Jedes Mal ist er bislang gescheitert.
Vor ein paar Tagen sei er aus Van gekommen, erzählt er mir, eine Stadt in der Osttürkei, gut 600 Kilometer von hier entfernt. Dass er jetzt in Suruc festsitzt, war nicht geplant. Eigentlich wollte er sofort weiter nach Kobane, wo seit Wochen der Krieg gegen die Terrormiliz Islamischer Staat tobt. Kurdische Kämpfer verteidigen die Stadt am Boden, die von den USA geführte Militärallianz bombardiert IS-Stellungen aus der Luft.
Erdal ist Anfang 30. Er kennt Kobane nur aus den Medien. Trotzdem will er dort kämpfen, an der Seite seiner kurdischen "Brüder" in Syrien, wie er sagt. "Ich bin zusammen mit drei Freunden hier, aus meiner Stadt sind schon viele in den Krieg gegen die Islamisten gezogen", sagt er und nippt an einem Glas Tee. Ob er denn wisse, wie man mit Waffen umgehe, frage ich. Aber ja, das habe er in einem Trainingslager der PKK in den Bergen gelernt. Seit drei Jahrzehnten kämpft die verbotene Kurdenorganisation für einen eigenen Staat. Seit anderthalb Jahren gilt eine Waffenruhe mit der türkischen Regierung, aber seit der Kampf um Kobane tobt, steht dieser Friedensprozess auf der Kippe.
Auch türkische Kurden kämpfen in Kobane
Dass Erdal es bislang nicht nach Kobane geschafft hat, liegt an der türkischen Armee. Überall entlang der Grenze patrouillieren Soldaten, stehen Panzer. Sie sollen nicht nur die türkische Grenze vor der Gewalt in Syrien sichern, sondern haben auch den Befehl, Kämpfer wie Erdal aufzuhalten. Denn der türkische Staatspräsident Erdogan betrachtet die syrischen Kurden-Kämpfer in Kobane, ebenso wie die PKK, als "Terrororganisation". Und trotzdem: Dutzende junge Kurden aus der Türkei sollen es über die Grenze geschafft haben, heißt es. Genaue Zahlen gibt es nicht.
Während Erdal rein will ins Kampfgebiet, wollen die meisten Menschen nur noch raus aus Syrien. Mehr als 1,6 Millionen sind seit Beginn des Bürgerkriegs in die Türkei geflohen, etwa 180.000 seien allein hier in Suruc gestrandet, sagt die türkische Regierung. Die Einwohnerzahl der kleinen Stadt hat sich binnen Wochen mehr als verdoppelt. Flüchtlinge, die Geld haben, wohnen in einer Mietwohnung, bei Familie oder Bekannten. Tausende aber leben in den Lagern, die die Stadtverwaltung hochgezogen hat: Graue Plastikzelte, weniger als zehn Quadratmeter für sechs Personen oder mehr. Die einzige Stromquelle: Eine Tankstelle auf der anderen Straßenseite. "Die Behörden helfen uns, wo sie können, aber das Leben hier ist sehr schwierig", sagt Zerga, eine kräftige Frau, die neben einem der Zelte sitzt und in einer Schüssel Kleidung wäscht. "Es ist kalt in der Nacht und wir frieren", sagt sie. "Was sollen wir denn erst im Winter machen?" Vier Milliarden US-Dollar hat die Türkei nach eigenen Angaben bereits ausgegeben, um den Flüchtlingen zu helfen, nur ein kleiner Teil davon sei aus dem Ausland gekommen, heißt es.
Undurchsichtige Rolle der Türkei
Auch wenn der türkische Präsident Erdogan Sicherheitskräften aus dem Nordirak, den sogenannten Peschmerga, jetzt den Transit über türkisches Territorium nach Syrien erlaubt hat: direkte militärische Hilfe für die Kurden in Kobane lehnt Ankara nach wie vor ab. Viele Kurden fühlen sich im Stich gelassen. Muhammed zum Beispiel, ein Flüchtling aus Kobane. "Wenn die Türkei eingreifen würde, wäre der IS doch schon längst besiegt", sagt er und rollt einen Strohhalm zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.
Muhammed hockt auf einem staubigen Hügel außerhalb von Suruc. Er ist oft hier, sagt er, eigentlich jeden Tag. Vom Gipfel hat man eine gute Sicht auf Kobane. Immer wieder sind Schüsse und Explosionen zu hören, weiße Rauchwolken ziehen in den Himmel. Wenn die US-Kampfjets ein Ziel bombardieren, bebt auch auf dieser Seite der Grenze der Boden.
Muhammed ist seit einem Monat in Suruc. Als die Islamisten in Kobane einfielen, brachte er sich, seine Frau und seine fünf Kinder in Sicherheit. Und obwohl er hier in der Türkei Zuflucht gefunden hat, betrachtet er die Regierung in Ankara als Feind. "Sie unterstützt den IS, mit Waffen, mit Geld", sagt Muhammed, zückt sein Handy und zeigt ein Foto. Darauf ist ein Mann in türkischer Armeekluft zu sehen, der schwer bewaffneten, bärtigen IS-Kämpfern entgegen lacht. Wer hat das Foto gemacht, will ich wissen? Muhammed zuckt mit den Achseln. Er weiß es nicht. Wie so viele Meldungen aus dem türkisch-syrischen Grenzgebiet lassen sich auch Muhammads Vorwürfe nicht belegen.
Eine Stadt in Schutt und Asche
Muhammed nimmt ein Fernglas und starrt angestrengt nach drüben. Schließlich findet er sein Haus - oder was davon übrig geblieben ist. Er gibt mir das Fernglas, ich solle es mir selbst ansehen, sagte er. Ich blicke hindurch und sehe Ruinen, Schutt, Asche. Ich sehe auch Flaggen auf den Dächern einiger Häuser: die gelbe der Kurden und die schwarze Fahne der Islamisten. Einige davon wechseln von Tag zu Tag die Position - ein Zeichen dafür, wie erbittert in Kobane gekämpft wird, um jede Straße, um jedes Haus.
Muhammed hasst es, hier zu sitzen und aus der Ferne zu beobachten, wie seine Heimat, sein altes Leben in Stücke geschossen wird. "Es tut weh und ich halte es kaum aus, aber ich muss einfach jeden Tag nach drüben schauen. Ich will wissen, was mit meiner Stadt passiert". Was, wenn Kobane fällt, frage ich ihn. "Dann wird hier niemand mehr in Frieden leben", sagt Muhammed. "Wo immer es einen Kurden gibt, wird es Krieg geben."
Auch unter den türkischen Kurden brodelt es. Die Wut über die vermeintliche Tatenlosigkeit der Regierung Erdogan ist in Suruc deutlich zu spüren. Ein Lastwagen mit etwa 40 jungen Männern auf der Ladefläche braust durch die Innenstadt. "Lasst eure Arbeit stehen und liegen, kommt mit", brüllen sie. "Wir müssen unsere Märtyrer beerdigen" und "Freiheit für Öcalan", den Anführer der PKK, der seit Jahren im Gefängnis sitzt. Der Lastwagen hält vor dem Krankenhaus von Suruc. Hier werden verletzte kurdische Kämpfer aus Kobane behandelt. Viele überleben nicht. Auch heute sollen wieder drei Männer beigesetzt werden. Die Leichen werden nicht, wie es hier Brauch ist, in einem Leinentuch beerdigt, sondern in Särgen auf einen eigenen "Märtyrer-Friedhof" in Suruc gebracht. Irgendwann, so die Hoffnung der Menschen, sollen sie zurückkehren in die Heimat - wenn der IS endlich besiegt ist.
Hat er nicht Angst, auch auf dem "Märtyrer-Friedhof" zu landen, frage ich Erdal, den jungen Kurden aus Van. Nein, sagt er bestimmt. "Wir kämpfen doch für eine gute Sache, für unser Volk." Heute Abend, wenn es dunkel wird, will er wieder losziehen und versuchen, über die Grenze zu kommen - an die Front, nach Kobane.