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Texte, die wandern

Jennifer Lepies1. Dezember 2008

Mit der Bezeichnung Migrationsliteratur können sich Autoren aus Einwandererfamilien oft nicht identifizieren. Literatur-Expertin Heidi Rösch würde den Begriff gerne ausbauen: "Das ist eher Neue-Welt-Literatur."

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Feridun Zaimoglu (Quelle: DPA)
Wird oft als Migrationsliterat genannt: der türkische Schriftsteller Feridun ZaimogluBild: picture-alliance/dpa

Der Kater Francis zieht mit seinem Herrchen um. Er kommt in sein neues Revier und stößt bei seinen ersten Erkundungen auf tote Artgenossen und unheimliche Rituale einer Sekte. In dieser ihm fremden Welt muss er sich zu Recht finden. So beginnt der Krimi "Felidae" des deutsch-türkischen Autors Akif Pirinçci, der die Geschichte aus der Sicht einer Katze schrieb. Der heute 49-jährige stammt aus der Türkei und kam 1969 mit seinen Eltern nach Deutschland.

Mit seinem kulturellen Hintergrund und der Thematik seiner Werke zählt Pirinçci zur so genannten Migrationsliteratur. "Man liest das nicht sofort als Migrationsliteratur, aber der Text beginnt ja damit, dass die Katze mit ihrem Herrchen umzieht und in eben dieser neuen Umgebung migrationsspezifische Erfahrungen macht", erklärt Heidi Rösch von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Dort ist sie Dozentin am Institut für deutsche Sprache und Literatur. Die Migrationsliteratur zählt zu ihren Schwerpunkten.

Texte, die wandern

Eine Gruppe Gastarbeiter mit Gepäck am Bahnhof.(Quelle: DPA)
Einige Gastarbeiter versuchten sich auch als SchriftstellerBild: picture-alliance/dpa

Angesichts des Umstands, dass Migration, also die Wanderung zwischen verschiedenen Städten oder Ländern, und damit das Vermischen von Kulturen immer häufiger auftritt, spiegelt sich dieser Umstand auch in der Literatur wieder. "Bei Migrationsliteratur handelt es sich um Texte, die sich thematisch mit Migration befassen. Theoretisch könnten also auch deutsche Autoren solche Literatur verfassen", sagt Rösch. Damit hätten Migranten eine literarische Form entwickelt, die man interkulturell nennen könnte. "Es ist vor allem der Text, der wandert, und nicht unbedingt der Autor."

Die Bezeichnung Migrationsliteratur blickt auf eine noch junge Geschichte zurück. Die literarische Strömung entstand in Deutschland nach der ersten Welle von so genannten Gastarbeitern in den 1970er Jahren. Daraus ergab sich auch zunächst der Begriff der Gastarbeiterliteratur. "Diese Autoren haben sich literarisch mit ihrer Situation in der Aufnahmegesellschaft kritisch auseinander gesetzt", so die Dozentin Rösch. Aus dieser ersten Generation haben sich aber nur wenige etablieren können. Vielen Schreiberlingen habe einfach die notwendige Voraussetzung, wie eine hohe Sprachsensibilität gefehlt, meint Rösch. "Rafik Schami ist aber einer aus dieser Generation, der ein breites Publikum finden konnte." Schami ist ein syrischer Exil-Autor, der 1946 geboren seit 1971 in Deutschland lebt. Der promovierte Chemiker begann während seiner Arbeit in der Industrie zu schreiben. Seine Werke publiziert er in deutscher Sprache. Während andere Autoren aus der Gastarbeiterliteratur häufig auf der Sprache ihres Herkunftslandes veröffentlichten und dann übersetzt wurden. Bekannt ist Schami vor allem durch seine Märchen und Geschichten, die in Arabien spielen. Dabei macht er sich zum Ziel, den deutschen Lesern die Vielfalt der arabischen Welt nahe zu bringen, um so zwischen Orient und Okzident zu vermitteln.

Nicht nur für eine ethnische Gruppe

Rafik Schami (Quelle:DPA)
Der in Syrien geborene Schriftsteller Rafik Schami ist bekannt für seine orientalischen MärchenBild: dpa

Charakteristisch für viele Autoren, die der Migrationsliteratur zugerechnet werden, ist, dass sie mit den Sprachen ihres Herkunfts- und Aufnahmelandes spielen. "Gino Chiellino hat beispielsweise dreisprachige Gedichte geschrieben", erläutert Literatur-Expertin Rösch,"die auf kalabresisch beginnen, in italienisch fortgesetzt werden und auf deutsch enden." Ein anderes Beispiel für die literarische Vielfalt ist laut Rösch die Autorin Emine Özdamar. Die Deutsche türkischer Herkunft befasst sich mit bildhaften, türkischen Sprichwörtern, die sie ins Deutsche überträgt. "Menschen, die türkisch sprechen, erkennen das wieder und lachen, während Deutsche sich darüber wundern", erklärt die studierte Germanistin die kulturelle Synthese.

Ebenso zählt Rösch das empathische Erzählen, wie sie es nennt, zu den Merkmalen von Migrationsliteratur. "Die Autoren erzählen nicht für eine ethnische Gruppe, sondern für mehrere." Dies geschehe dann, wenn es zum Beispiel um eine Liebesgeschichte zwischen einer Deutschen und einem Türken geht. "Der Leser erfährt also etwas über die Kultur des anderen und erhält dadurch eine kritische Sicht auf die eigene Kultur", sagt Rösch. Dies sei durchaus ein Merkmal, das man avantgardistisch nennen könnte.

"Echt ein Ekelbegriff"

In Zeiten der globalen Mobilität kann man sich fragen, ob eine Einteilung wie die der Migrationsliteratur überhaupt noch sinnvoll ist. Rösch hält an dem Begriff fest, erklärt aber: "Ich würde den Begriff auch gerne weiter ausbauen und aus dieser 'Gastarbeiter-Ecke' heraus holen. Für mich ist das eher eine 'Neue-Welt-Literatur'."

Die Bezeichnung der Migrationsliteratur ist auch unter den Autoren selbst umstritten. Viele Schriftsteller sehen sich davon nicht repräsentiert und wollen sich weder der ausländischen noch der deutschen Literatur zurechnen lassen. Feridun Zaimoglu nannte die Bezeichnung gar "echt einen Ekelbegriff". Der Schriftsteller mit türkischer Herkunft wurde in Deutschland vor allem mit seinem ersten Buch "Kanak Sprak", das 1995 erschien, bekannt. Darin versuchte er, die Sprache junger Deutsch-Türken in deutschen Städten literarisch abzubilden.

Für Verständigung zwischen den Kulturen

Im Jahr 2005 erhielt Zaimoglu für sein künstlerisches Schaffen den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Die Auszeichnung wird jährlich auf der Frankfurter Buchmesse vergeben. Der Literaturpreis richtet sich an deutsch schreibende Autoren, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Mit dieser Auszeichnung, so ist auf der Homepage zu lesen, dokumentiert der Preis, dass "Literatur und Sprache der Verständigung zwischen den Kulturen dient – in Deutschland, in Europa und darüber hinaus."

In diesem Jahr erhielt der Nachwuchs-Autor Saša Stanišic den Preis. Geboren in Bosnien-Herzgowina kam der damals 14-jährige 1992 nach Heidelberg. Er studierte Deutsch als Fremdsprache und slawische Philologie. Unter seinen auf deutsch veröffentlichten Texten finden sich Erzählungen und Essays. Stanišic verfasste auch Hörspielearbeiten und literarische Blogs. Sein erstes Buch "Wie der Soldat das Grammofon repariert" erschien 2006. In dem Roman geht es um den Jungen Aleksandar, der in den 1990er Jahren mit seinen Eltern vor dem Bürgerkrieg in Bosnien flieht.