"Wer bestellt, bezahlt"?
16. Februar 2018Bonn, Essen, Reutlingen, Mannheim und Herrenberg: Das sind die "Lead Cities" - die von der Bundesregierung ausgewählten Städte, die einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr testen sollen - mit finanzieller Unterstützung vom Bund. Der Vorstoß soll helfen, eine drohende Klage der EU-Kommission abzuwenden. Denn deutschlandweit werden in mehr als 70 Städten die Grenzwerte für Stickoxide überschritten. Ein kostenloser Nahverkehr soll die Autos aus den Städten vertreiben und so die Luft verbessern.
Wer kommt für die Kosten auf?
Dass sie zu den Auserwählten zählen, erfuhren die Städte am vergangenen Wochenende aus dem Kanzleramt. Die Reaktionen auf den Vorschlag sind gespalten.
Reutlingen erklärte, die Stadt sei gerne Testgebiet - sie halte den Vorschlag grundsätzlich für eine gute Idee. Die Deutsche Umwelthilfe hat wegen zu hoher Stickoxidwerte bereits gegen Reutlingen geklagt. Die Stadt streitet außerdem darum, mit welchen Maßnahmen die Luft verbessert werden könnte. Weniger Autos durch einen kostenlosen ÖPNV wären also ein willkommenes Mittel. Allerdings: "Wir haben keine Ahnung, wer zahlt, wie es umgesetzt werden soll", sagte Wolfgang Löffler, Leiter des Reutlinger Presseamtes, der DW. "Aber es ist auch klar, dass die Kommune das nicht bezahlen kann." Zig Millionen würde es die Stadt kosten, wenn neue Linien eröffnet und die Taktabstände verkürzt würden, so Löffler.
"Wer bestellt, bezahlt" - der Meinung ist Herrenbergs Oberbürgermeister Thomas Sprißler (Freie Wähler). Die Stadt findet die Idee eines kostenlosen ÖPNVs aber grundsätzlich "sehr verlockend". Trotzdem kämen auch weitere Maßnahmen in Betracht, um die Schadstoffe in der Luft zu senken, heißt es: Tempolimits, der Ausbau des Radverkehrs, die Förderung der E-Mobilität oder LKW-Fahrverbote.
Schöne Idee, aber...
Dankbar und froh, dass sie auserwählt wurden, scheinen zunächst einmal die meisten Städte zu sein. Doch mit Blick auf die bislang mehr als ungewisse Umsetzbarkeit des Vorhabens äußern sie sich mit Bedacht. Bonns Oberbürgermeister Ashok Sridharan (CDU) freut sich zwar auf die geplanten Gespräche mit der Bundesregierung. Doch auch er sagt: Die Stadt könne so ein Vorhaben nicht allein entscheiden - auch der Verkehrsverbund müsse miteinbezogen werden.
Ein weiteres Problem: die zusätzlich benötigten Busse und Bahnen. "Die Fahrzeuge haben wir ja nicht auf dem Hof stehen", so Sridharan - zumal es saubere Busse sein müssten. "Mir ist aber kein Hersteller bekannt, der kurzfristig Elektrobusse in der Stückzahl liefern kann, die wir bräuchten."
Trotzdem kündigte Sridharan an, sich eng mit den Kollegen in Essen abstimmen zu wollen. Essen selbst findet die Idee ebenfalls verlockend, verweist aber auch auf die notwendige Finanzierbarkeit. Rund 100 Millionen Euro - so viel nimmt die Stadt nach eigenen Angaben jedes Jahr durch den Nahverkehr ein. Im Falle eines kostenlosen Nahverkehrs müssten neben den Einnahmen auch die Ausgaben für die Ausweitung des Verkehrsangebots aufgebracht werden.
International ist man schon weiter
Neu ist die Idee der Bundesregierung nicht. Zahlreiche Städte auf der ganzen Welt sind in ihren Überlegungen schon deutlich weiter fortgeschritten als Deutschland - mit gemischten Resultaten. Tallin gilt vielen als Paradebeispiel für einen kostenlosen ÖPNV. In der estnischen Hauptstadt können dort gemeldete Einwohner seit 2013 kostenlos Bus und Bahn fahren. Die Stadt verkauft es als vollen Erfolg: Zahlreiche Autos seien aus der Innenstadt verschwunden, und finanziell tragfähig sei das Modell auch. Experten sagen aber auch: Die zusätzlichen Nahverkehrsnutzer seien vor allem Menschen, die schon vorher auf das Auto verzichtet hatten. Nur ein kleiner Teil der Autofahrer sei umgestiegen.
Im belgischen Hasselt konnten Bürger fast 16 Jahre lang kostenlos die öffentlichen Busse nutzen. 2013 beendete die Stadtverwaltung das Projekt. Der Grund: die zu hohen Kosten.
Ob ein kostenloser Nahverkehr in Deutschland finanziell tragfähig sein würde und die gewünschten Effekte brächte, ist ungewiss. Bundesweit kostet der ÖPNV derzeit rund 24 Milliarden Euro jährlich. Die Hälfte davon wird durch den Ticketverkauf finanziert; mindestens zwölf Milliarden Euro würden bei einem kostenlosen ÖPNV also wegfallen.
Mannheim glaubt nicht dran
Die ausgewählten "Lead Cities" verweisen in diesen Tagen daher auch auf die Alternativen. Mannheims erster Bürgermeister und ÖPNV-Dezernent Christian Specht (CDU) etwa glaubt nicht an einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr. "Es wäre besser, in die Attraktivität des ÖPNV zu investieren", sagte er der DW: in den Ausbau der Elektromobilität, neue und modernere Stadtbahnen, mehr Car- und Bike-Sharing-Angebote und innovativere Tarife - diese Maßnahmen würden seiner Ansicht nach viel eher dazu beitragen, die Luftqualität langfristig zu verbessern und Fahrverbote zu verhindern.