Fragen nach dem Anschlag von Reyhanli
13. Mai 2013Levent Tüzel ist es gewohnt, der türkischen Regierung zu widersprechen. Im letzten Winter gehörte der parteilose linke Parlamentsabgeordnete zu jenen Politikern, die gegen die Stationierung von NATO-Patriotraketen in der Türkei protestierten. Nach dem Anschlag von Reyhanli findet sich Tüzel erneut auf der Seite der Regierungsgegner wieder. Nicht die syrische Führung habe die Autobomben zu verantworten, erklärte Tüzel während eines Besuches in der Stadt nahe der syrischen Grenze über den Kurznachrichtendienst Twitter: „Die Leute hier sagen, es war die ÖSO“ – die türkische Abkürzung für die Freie Syrische Armee, die Hauptstreitmacht der Rebellen in Syrien.
Tüzel steht mit seinem Vorwurf nicht allein. Auch andere Oppositionspolitiker meldeten Zweifel an der offiziellen Darstellung der Ereignisse an. Hasan Akgöl von der Oppositionspartei CHP stellte die Frage, warum bei dem Anschlag vom Samstag kaum Syrer unter den Opfern waren – obwohl in der Stadt 40.000 Menschen aus dem Nachbarland leben. Zudem solle die Regierung doch bitte erklären, warum sie in Reyhanli eine Nachrichtensperre verhängen ließ: Akgöl und andere sind sicher, dass Ankara damit Berichte über eine Täterschaft syrischer Rebellen verhindern will.
Regierung bleibt bei Darstellung
Aus Sicht der türkischen Regierung sind die Vorwürfe nichts als unverantwortliches Geschwätz. Es gebe ernstzunehmende Beweise dafür, dass Anhänger der syrischen Regierung die beiden Autobomben in Reyhanli zündeten, sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor Journalisten in Ankara. Die syrische Opposition habe nichts damit zu tun. Erdogan bestätigte Medienberichte, wonach die Ermittler auch Hinweise darauf haben sollen, dass die Bombenleger ursprünglich die Regierungszentrale in Ankara angreifen wollten, wegen der scharfen Sicherheitsvorkehrungen in der Hauptstadt dann aber Reyhanli vorzogen.
Erdogans Regierung ist sicher, dass eine linke Splittergruppe im Auftrag des syrischen Geheimdienstes die Gewalttat verübte, um in Reyhanli und Umgebung die Spannungen anzuheizen und die Türkei zu destabilisieren. Neun Verdächtigte sitzen in Polizeihaft und sollen teilweise geständig sein.
Streit um Syrien-Politik flammt neu auf
Die Debatte über die Frage, wer denn nun die Täter von Reyhanli waren, wirft ein Schlaglicht auf einen seit langem schwelenden Grundsatzstreit in der Türkei. Die Regierung Erdogan argumentiert, sie habe angesichts der Lage im Nachbarland nicht anders reagieren können, als der Opposition beizuspringen. Schließlich seien die Syrer zu Hunderttausenden aus ihrem Land geflohen. Man habe ihnen die Tore öffnen müssen. „Wollen Sie etwa einer Frau, die vor Vergewaltigung flieht, die Tür vor der Nase zuschlagen?“ fragte Außenminister Ahmet Davutoglu.
Erdogans politische Gegner in der Türkei betonen dagegen, die Regierung habe das Land mit der eindeutigen und aktiven Parteinahme für die Assad-Gegner mitten in den Syrien-Konflikt hinein gesteuert. Die politische Opposition der Syrer darf sich in Istanbul zu Konferenzen treffen, während sich die kämpfenden Einheiten der Rebellen in grenznahen Gegenden wie Reyhanli frei bewegen und mit Waffen und Nachschub eindecken können. Oppositionspolitiker berichten davon, dass syrische Rebellen vor dem Anschlag von Reyhanli ungeniert mit ihren Waffen durch die Stadt spazierten, ohne dass die türkische Polizei eingriff.
Gegensätze werden schärfer
Diese politischen Gegensätze dürften nach dem Blutbad vom Wochenende (11./12.05.2013) noch schärfer werden. Der syrische Bürgerkrieg ist in Reyhanli so heftig auf türkisches Staatsgebiet übergeschwappt wie nie zuvor, und die türkische Opposition weiß, dass die türkischen Wähler die Syrien-Politik Erdogans sehr skeptisch sehen: Nur 28 Prozent der Wähler unterstützten in einer Umfrage im vergangenen Herbst den Kurs des Premiers. Auf keinem anderen wichtigen Politikfeld ist Erdogan so angreifbar – und in den kommenden zwei Jahren stehen in der Türkei drei Wahlen an.