Wie aus Ali Raza Alia wurde
3. Juli 2016Noch bevor er in die Schule kommt, weiß Ali Raza, dass er im falschen Körper steckt. Spielen und Toben mit anderen Jungs, das ist nichts für ihn. Stattdessen interessiert er sich mehr für Puppen, Schmuck oder Schminke. Mit fünf oder sechs Jahren kann er zum ersten Mal in Worte fassen, was mit ihm los ist – und spricht mit seiner Mutter darüber. "Ich habe meiner Mutti gesagt, dass ich eigentlich kein Junge bin, sondern ein Mädchen." Die Mutter nimmt die Aussage zunächst nicht ernst, hält sie für eine vorübergehende Phase, nicht untypisch für ein kleines Kind. Sie lässt Ali gewähren. "Sie dachte, das wächst sich aus – und irgendwann hat sie dann einen jungen Mann."
Alia lacht laut auf, als sie das erzählt. Weil der Gedanke für sie so absurd ist. Weil sie Ali längst hinter sich gelassen hat und jetzt Alia ist. Sie wohnt auch nicht mehr in ihrer pakistanischen Heimatstadt Lahore, sondern tausende Kilometer entfernt in Köln. Seit dreieinhalb Jahren studiert sie dort Umweltwissenschaften. Sie geht regelmäßig zum Beratungszentrum rubicon, einer Anlaufstelle für Lesben, Schwule, Bisexuelle oder Transgender-Menschen. Und sie lebt mittlerweile offen als Frau. Sie schminkt und rasiert sich, ihre Bewegungen sind betont feminin. Auch wenn sie rein körperlich noch ein Mann ist. Auf Zeit – denn auch das soll sich ändern. "Ich hoffe, dass ich mich in zwei Jahren operieren lassen kann." Ihre Augen leuchten, wenn sie davon spricht. Den Tag kann sie kaum erwarten. Denn Frau sein, das bedeutet für sie auch gleichzeitig: Frei sein.
Das dritte Geschlecht: Auf der Bühne gern gesehen – ansonsten ausgestoßen
"Ich wollte irgendwo hin, wo ich meine Identität nicht verstecken muss. Wo ich als freier Mensch leben kann", erzählt sie. In Pakistan traut sie sich das bis zum Schluss nicht, bleibt offiziell Ali Raza. Auch, wenn sie manchmal heimlich andere Transgender-Menschen trifft, denen es genauso geht wie ihr. Die sich nicht mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren können. Doch in ihrem nächsten Umfeld weiß niemand, wie es wirklich um sie steht. Dass sie darunter leidet, ein Junge zu sein. Nicht einmal ihre engsten Vertrauen weiht sie ein. Erst im vergangenen Jahr, als sie schon längst in Deutschland lebt, erzählt sie ihrer Mutter und ihrer Schwester alles. "Ich hatte einfach Angst, es ihnen zu sagen. Angst, dass meine Mutti sagt: Du bist nicht mehr mein Kind. Ich schmeiße dich raus, und ich möchte keinen Kontakt mehr zu dir haben. Ich kenne viele, denen es genauso ergangen ist." Alia hat Glück. Ihre Familie hält weiter zu ihr. Eher eine Ausnahme als die Regel.
"Transgender-Menschen werden in Pakistan an den Rand gedrängt und diskriminiert. Sie werden vom Staat, von der Gesellschaft und auch von ihren Familien verstoßen ", erklärt Saroop Ijaz, der Pakistan-Beauftragte von Human Rights Watch. Als Tänzer oder Sänger bei Feiern sind sie gern gesehen, ansonsten aber sind sie kaum akzeptiert. Zwar habe das Oberste Gericht des konservativen muslimischen Landes im Jahr 2009 ein Urteil gefällt, wonach Transgender-Menschen offiziell als drittes Geschlecht anerkannt sind – inklusive eines entsprechenden Eintrags im Ausweis. "Außerdem wird ihnen ein Erbrecht und das Recht auf Bildung und Gesundheitsversorgung zugesprochen." In der Praxis allerdings sei vieles davon nicht angekommen. Im Gegenteil. "Immer öfter kommt es zu gewaltsamen Übergriffen auf Transgender-Menschen, es gibt Verletzte und sogar Tote."
Der Fall Alisha: Ein vermeidbarer Tod
Erst vor wenigen Wochen sorgte der Mord an einer im Land bekannten Trans-Aktivistin international für Schlagzeilen. Denn die Umstände machen das Ausmaß der alltäglichen Diskriminierung auf tragische Weise deutlich. Die 23-jährige Alisha war Mitglied der "Trans-Action-Alliance" (TAA), der ersten organisierten Transgender-Plattform in der nordwestlichen Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Sie hatte in der Vergangenheit öffentlich die Lebensumstände von Trans-Menschen in ihrem Land angeprangert. Ende Mai wurde sie Opfer eines Anschlags.
Sie sei kaltblütig erschossen worden, berichtet Qamar Nasim, Menschenrechtsaktivist und aktiv bei der TAA. "Neunmal feuerte der Schütze auf sie. Alisha wurde daraufhin in eines der größten Krankenhäuser der Region gebracht. Aber dort wurde ihr zunächst jede professionelle Hilfe verweigert." Der Grund: Das Personal habe sich nicht einigen können, welcher Arzt für sie zuständig sei, ob sie als Mann oder Frau behandelt werden und auf welcher Station sie untergebracht werden sollte. Darüber ging kostbare Zeit verloren – die Alisha wohl das Leben kostete. Am Ende erlag sie ihren inneren Verletzungen. "Während Alisha sterbend da lag, standen Menschen herum und machten sich lustig", ergänzt Saroop Ijaz von HRW." Das zeigt, wie tief diese 'Fäulnis' in Pakistan geht."
Qamar Nasim bezeichnet die Transgender-Gemeinde als die am stärksten isolierte und verletzlichste Gruppe in dem südasiatischen Land. Eine große Gruppe. "Offizielle Statistiken gibt es nicht. Die pakistanische Regierung geht davon aus, dass es rund eine halbe Million sind. Aber wir glauben, dass es tatsächlich mehr als doppelt so viele sind." Und dann nennt der TAA-Aktivist noch eine erschreckende Zahl: " Zwischen Januar 2015 und Mai 2016 wurden 46 Transgender-Menschen allein in Khyber Pakhtunkhwa umgebracht." Außerdem habe es im gleichen Zeitraum mehr als 300 tätliche Angriffe oder Vergewaltigungen gegeben.
"Pottvieh, geh zurück nach Indien!"
Körperlich angegriffen wurde Alia selbst nie. Aber mit Vorurteilen oder Diskriminierung im Alltag hat auch sie immer wieder zu kämpfen. Auch in Deutschland. "Einmal war ich auf einer Internet-Dating-Website unterwegs. Und dort hat sich jemand die Zeit genommen, mir lang und breit zu schreiben, dass ich sehr hässlich sei – und eine Schande für Schwule hier." Sie steht auf Männer, ist aber derzeit nicht liiert. In Pakistan hatte sie einmal eine Beziehung zu einem Mann, seitdem ist sie Single.
Aufgrund ihres auffälligen Äußeren wird sie oft angestarrt. Kinder zeigen beispielsweise auf der Straße auf sie und tuscheln, auch das tut ihr weh. Sie habe nicht immer die Kraft, darauf etwas zu entgegnen. "Und einmal hat mich ein Betrunkener als 'Pottvieh' bezeichnet und mir gesagt, dass ich zurück nach Indien gehen soll. Dem habe ich gesagt, dass ich aus Pakistan komme." Alia lacht ein bisschen, als sie das sagt. Aber es ist kein fröhliches Lachen. Anders als das, was sonst ímmer wieder durchkommt, wenn sie erzählt. Sie müsse eben damit klarkommen und versuchen, es nicht zu nah an sich heranzulassen. "Denn das ist sein Hass. Nicht meiner."
Sie zuckt resigniert die Schultern. Alia glaubt, dass man nur ganz behutsam und grundsätzlich etwas ändern kann, damit Menschen wie sie einen festen Platz in der Gesellschaft bekommen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in ihrer Heimat. "Schon in der Grundschule sollten Kinder mit dem Thema vertraut gemacht werden. Sie sollten erfahren, dass es auch Transgender-Menschen gibt. Und dass wir genauso Menschen sind wie andere Männer und Frauen."
Eine überraschende Meldung
In dieser Woche dann kam eine Meldung aus Pakistan, mit der wohl die wenigsten gerechnet hätten: 50 islamische Kleriker haben in einer Fatwa Ehen mit Trans-Menschen unter bestimmten Voraussetzungen für rechtmäßig erklärt. Demnach sollen Trans-Menschen mit "sichtbaren" männlichen oder weiblichen Körpermerkmalen Angehörige des jeweils anderen Geschlechts heiraten dürfen. Das Rechtsgutachten der Mullahs ist zwar rechtlich nicht bindend. Trotzdem begrüßt Aktivist Nasim es als einen Schritt in die richtige Richtung. "Das ist ein Fenster in einem dunklen Raum. Zum ersten Mal wurde es geöffnet, und wir sehen Licht, können frische Luft atmen. Wir sind davon überzeugt, dass das eine einmalige Gelegenheit für die Transgender-Community ist."
Einmal war Alia noch in Pakistan, seit sie in Köln lebt. Es war der Besuch, bei dem sie ihrer Familie reinen Wein einschenkte . "Ich habe versucht, dort ein bisschen 'Fräulein' zu sein. Aber es war komisch. Meine Mutti hatte ständig Angst, dass mich jemand erschießen könnte. Oder dass mich einer unserer Verwandten als Frau sehen und es unglaublich ekelhaft finden könnte." Aber trotzdem kehrt sie glücklich nach Deutschland zurück. "Ich hätte nicht damit leben können, wenn meine Mutti gesagt hätte: Geh weg. Das wäre mein größter Alptraum gewesen." Stattdessen akzeptiert die Mutter sie als das, was sie ist: ihr Kind. Eine Frau. Und einfach der wichtigste Mensch.