Geschichtsschreibung im Internet
3. Februar 2012
"Eigentlich wollte ich das bloß abgeben. Das habe ich von meinem Großvater bekommen." Ein älterer Herr ist zum Aktionstag des Projektes "Europeana 1914-1918" gekommen und hat ein Heft mit Soldatenliedern aus dem Ersten Weltkrieg mitgebracht. An vier Tagen tourte das Projekt durch Deutschland: Wissenschaftler, Archivare und Militärhistoriker kümmerten sich um die rund 100 Leute, die an diesem Tag kamen, um bislang private Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg – Liebesbriefe, Postkarten, Fotos – einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Europeana ist eine Art digitales Gedächtnis Europas. Über das Internetportal www.europeana.eu sind derzeit mehr als 15 Millionen Objekte verfügbar. Ständig werden es mehr. Bibliotheken und Archive haben nämlich das sogenannte "Crowdsourcing" entdeckt. Der Begriff stammt aus dem längst zum Mitmachweb gewordenen Internet. Vor allem über soziale Netzwerke wie Facebook & Co. konsumieren die User nicht mehr nur passiv Informationen, sondern generieren aktiv Inhalte.
Skepsis verflogen
Neu ist, dass sich zunehmend auch die Geschichtsschreibung des Crowdsourcing bedient, in dem sie User-Massen motiviert, selbst Quellen ins Netz zu stellen. Diese Erschließung digitaler Schwarmintelligenz liegt voll im Trend, sagt Britta Woldering von der Deutschen Nationalbibliothek, die das Projekt Europeana 1914-1918 für Deutschland koordiniert. "Die Erfahrungen mit Crowdsourcing sind durchweg positiv."
Anfangs mögen die Profis noch Vorbehalte gegen das Mitmachen von Laien gehabt haben, aber die Beiträge in den entsprechenden Online-Portalen seien durchweg gehaltvoll, sagt sie. Bei den Aktionstagen habe es viele schöne und emotionale Momente gegeben. Die oft betagten Menschen hätten sich sehr gefreut, dass sich Experten wie Militärhistoriker für die Erinnerungen an den Vater oder Großvater interessierten und den Laien die historischen Hintergründe der privaten Fundstücke erläuterten.
Die Aktionstage in Deutschland waren nur der Auftakt des Projektes. Denn aktuell gehen fünf weitere Länder an den Start, darunter auch Großbritannien. Etliche andere Staaten stehen bereits in der Warteschlange. Schon jetzt kann jeder Interessierte bis 2014 Material, das bisher in staubigen Kisten und Kästen auf dem Speicher liegt, digitalisieren und auf ein Internetportal hochladen.
Vorbild des Weltkriegsprojektes ist ein Vorläufer der University of Oxford aus dem Jahre 2008. Auch außerhalb Europas ist das Crowdsourcing populär: Die Library of Congress in Washington sammelt auf der Fotoplattform Flickr historische Fotos. Ein rein deutsches Projekt ist "Gedächtnis der Nation". 2011 fuhr ein zum mobilen TV-Studio umgebauter Bus quer durch Deutschland. Dort konnten Menschen vor der Kamera hautnah erlebte deutsche Geschichte erzählen. Für 2012 ist eine Fortsetzung in Arbeit.
Neuer Forschungszweig
Fragt sich indes: Wozu das Ganze? Schließlich quellen die Bibliotheken von Geschichtsbüchern geradezu über. Jens Prellwitz, Spezialist für die Geschichte der Weltkriege, nimmt für die Staatsbibliothek zu Berlin am Projekt Europeana 1914-1918 teil. Er schildert, dass die über Crowdsourcing gesammelten Dokumente eine wissenschaftliche Lücke schließen. "Die Dokumente befruchten einen Forschungszweig, der sich in den vergangen Jahren entwickelt hat, der weniger die politischen und militärischen Verwicklungen des Ersten Weltkriegs betrachtet, als die sozialen und kulturellen Implikationen."
Konkret: Wie erlebte der einfache Soldat den Horror im Schützengraben? Wie hat es sich ausgewirkt, dass immer weniger Männer dem Arbeitsprozess zur Verfügung standen? Wie reflektierten die Menschen, dass Frauen immer stärker in den Produktionsprozess eingebunden waren? Zuvor Undenkbares, wie Frauen als Straßenbahnfahrerinnen, war plötzlich Kriegsalltag.
Ob Historiker oder historisch interessierte Laien: Über Geschichte zu recherchieren ist dank Crowdsourcing und Onlineplattformen jederzeit möglich: 24 Stunden, sieben Tage die Woche, an jedem Ort der Erde - Strom und Internet vorausgesetzt.
Praktischer Nutzen
Sinn und Zweck der Projekte ist nicht allein das Sammeln von neuem Material, sondern auch die Konzentration von weit verstreuten Materialien und ihre Verbreitung via Internet. Das gilt beispielsweise für das Netzwerk Judaica Europeana, über das 10 Partner weltweit ihre zum Teil unbekannten Sammlungen ins Netz gestellt haben, darunter die Alliance Israélite in Paris, das Jewish Museum in London und die Universitätsbibliothek in Frankfurt am Main. Federführerin Dr. Rachel Heuberger erläutert: "Das älteste Stück der Sammlung ist ein Fundstück aus Griechenland aus dem dritten Jahrhundert. Es belegt, dass sich die Juden nach der Zerstörung des jüdischen Staates durch die Römer dort niedergelassen haben."
Rachel Heuberger plant, demnächst einen virtuellen Stadtplan Frankfurts online zu stellen – schließlich war die Stadt über viele Jahrhunderte hinweg eines der wichtigsten Zentren jüdischen Lebens in Deutschland. "Das Projekt ist bald fertig und wird demnächst freigeschaltet." Interessierte können dann für ihren nächsten Besuch eine Tour durch das jüdische Frankfurt einplanen. Neben der Sammlung und Verbreitung haben die historischen Internetplattformen damit auch einen ganz praktischen Nutzen.