Europawahl verbindet das geteilte Zypern
11. Mai 2019Nirgendwo in Zypern ist der Konflikt so sichtbar wie in Famagusta, einer Küstenstadt rund 80 Kilometer östlich von Nikosia, im Norden der geteilten Mittelmeerinsel. Seit der türkischen Invasion 1974 ist hier ein ganzer Stadtteil militärisches Sperrgebiet: Varosia, eine Geisterstadt mit verlassenen Hotels, Kinos, Banken und rund 3000 kleineren, leerstehenden Geschäften. Nicht weit von hier, innerhalb der alten Stadtmauern von Famagusta, haben sich etwa 40 junge türkische Zyprer versammelt. Irgendwo ruft der Muezzin zum Gebet. Die Studenten haben nur ein Thema: die Europawahl.
Grund dafür ist ein Treffen mit Niyazi Kızılyürek, dem ersten Nordzyprer mit realistischen Chancen auf einen Sitz im EU-Parlament. Als Türkischstämmiger kandidiert er für die größte griechisch-zypriotische Oppositionspartei AKEL - auch das gab es in Zypern noch nie. Als einziger Kandidat besucht er deshalb die ganze Insel. "Das ist eine echte Möglichkeit für mich, beide Seiten zusammenzubringen. Ich bin wie ein Verbindungsstück, weil ich schon immer mit beiden Gemeinschaften zu tun hatte", sagt Kızılyürek. Seit vielen Jahren setzt sich der 60-Jährige für den Frieden in Zypern ein: als Professor, Autor, Filmemacher. Und jetzt auch als Politiker.
Auch Nordzyprer sind EU-Bürger
Bei seinen Wahlkampf-Auftritten im Norden geht es nur nebenbei um Werbung für die eigene Partei. In erster Linie will Kızılyürek den Menschen erklären, dass auch sie Teil der EU sind. Bei der vergangenen Europawahl haben weniger als 2.500 Menschen aus dem Norden abgestimmt, also nur drei Prozent derer, die im Wahlregister aufgeführt sind. "Ich wusste ehrlich gesagt nicht einmal, dass wir überhaupt wählen dürfen, und ich kannte auch nie die Kandidaten. Es waren immer Leute von der anderen Seite", sagt Biologiestudent Ceyhun Ipekcioglu. "Jetzt gibt es da jemanden, der uns versteht, der die Jugend versteht, und der weiß, mit welchen Problemen wir uns hier rumschlagen", fügt seine Bekannte Buse Ozkan hinzu. "Wir wollen Teil der EU sein, ein Teil von Europa."
Offiziell gehört auch Nordzypern zum Unionsgebiet, doch das EU-Recht ist hier ausgesetzt. Die Türkische Republik wird nur von Ankara als Staat anerkannt. Trotzdem leben hier im Norden der Insel etwa 100.000 türkische Zyprer mit einem europäischen Pass - ein Recht darauf haben all die, deren Vorfahren auch aus Zypern stammen. Damit sie Ende Mai an den Wahlen teilnehmen können, richtet die griechisch-zypriotische Regierung 50 Wahllokale entlang der Grünen Linie ein, einer Pufferzone, die noch immer von etwa 1000 UN-Soldaten bewacht wird.
Kalter Frieden
Seit die Türkei vor mehr als vier Jahrzehnten den Norden besetzt hat, leben die Menschen hier weitgehend isoliert. Erst 2003 wurden die Grenzen zwischen Nord und Süd geöffnet. Trotzdem bleibt die Trennung offensichtlich: Es gibt zwei Währungen, zwei Handynetze, zwei Sprachen. Umfragen zeigen zwar, dass mehr als die Hälfte aller Zyprer für eine vereinte Insel ist - doch der Friedensprozess steht still. "Es gibt keine Gewalt. Es ist so etwas wie ein kalter Frieden hier", sagt Mete Hatay, Wissenschaftler am Friedensforschungsinstitut Oslo in Nikosia. "Das Leben läuft weitgehend normal, in einer völlig abnormalen Situation. Das macht den Leuten Angst, aber trotzdem fehlt die Dringlichkeit, etwas zu verändern."
Esra Aygin berichtet seit mehr als 20 Jahren über den Konflikt in ihrer Heimat. Mit der Kandidatur von Niyazi Kızılyürek könnte sich endlich etwas ändern, hofft die junge Journalistin aus Nordzypern. "Die Leute hier haben immer geglaubt, dass ein türkischer Zyprer niemals einen griechischen Zyprer repräsentieren kann. Oder dass eine Idee, die für Nordzypern gut ist, schlecht für den Süden sein muss. Niyazi bricht all diese Tabus", sagt sie. "Auch wenn er nicht gewählt wird, schreibt er Geschichte."
Doch es gibt auch Kritik.Weil Kızılyürek für eine griechisch-zypriotische Partei kandidiert, glauben im Norden einige, dass er sich nicht wirklich für ihre Interessen einsetze. Außerdem hatte seine Partei AKEL vor 15 Jahren bei den Friedensverhandlungen nicht für den Annan-Plan der UN gestimmt, der die beiden Seiten wieder vereinen sollte.
Bald Türkisch im Europaparlament?
Niyazi Kızılyürek fährt fast täglich in ein anderes Dorf, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Seinen Wahlkampf führt er sowohl auf Türkisch als auch auf Griechisch. Für den Einzug ins Europaparlament braucht er mindestens 17.000 Stimmen - egal, von welcher Seite. Umfragen deuten darauf hin, dass bei diesen Wahlen wesentlich mehr Menschen aus dem Norden abstimmen werden als 2014 - etwa 80 Prozent davon für Kızılyürek. "Wer mich wählt, wählt eine Idee", sagt der Kandidat. "Jede Stimme für mich ist nicht nur eine Stimme für jemanden, der ins Europaparlament will, sondern eine Stimme für Frieden, Versöhnung und ein gemeinsames Leben." Für Kızılyürek bedeutet das auch einen Schritt in Richtung gleicher Teilhabe: Wenn er gewählt wird, will er seine Plenarreden auf Türkisch halten.