Untergang der UdSSR
20. Dezember 2011Es geht um alles oder nichts. 1991 befindet sich die Sowjetunion im freien Fall. Die Industrieproduktion sinkt, die Arbeitslosigkeit steigt und eine galoppierende Inflation frisst die Ersparnisse der Bürger auf. Ethnische Konflikte brechen aus, in Georgien und Aserbaidschan wird geschossen. Litauen ruft als erste Sowjetrepublik 1990 ihre Unabhängigkeit aus. Im Januar 1991 schickt Moskau ein KGB-Sonderkommando nach Vilnius. 14 Menschen sterben bei der Stürmung des Fernsehturms in der litauischen Hauptstadt. Doch es gelingt nicht, Litauen zurück ins Sowjetreich zu holen. Präsident Michail Gorbatschow verliert zunehmend die Kontrolle über sein Land.
"Die Sowjetunion hätte gerettet werden können und müssen", sagt Gorbatschow heute. Damals strebte er eine Art "UdSSR 2.0" an, in der die Teilrepubliken mehr Eigenständigkeit bekommen sollten. Im März 1991 hält Gorbatschow ein Referendum ab. Nach offiziellen Angaben sprechen sich mehr als 70 Prozent für den "Erhalt der Sowjetunion als einer erneuerten Föderation souveräner Republiken mit gleichen Rechten" aus. Doch wie soll diese neue Sowjetunion aussehen? Die Verhandlungen in Gorbatschows Residenz Nowo-Ogarjowo bei Moskau gestalten sich schwierig, nur neun von insgesamt 15 Sowjetrepubliken nehmen an ihnen teil. Aber dem Präsidenten gelingt es doch noch, einen neuen Staatsvertrag auszuhandeln, der das Land zusammenhalten soll. Die Unterzeichnung ist für den 20. August 1991 geplant. Doch dazu kommt es nicht.
Putschversuch der Hardliner
Einen Tag vor dem Termin, am 19. August 1991, passiert, was viele im Westen längst befürchteten: ein Putsch gegen Gorbatschow. Eine Gruppe sowjetischer Hardliner, darunter der Verteidigungsminister, der Innenminister sowie der Chef des Geheimdienstes KGB, bilden ein "Notstandskomitee". Die Altkommunisten misstrauen Gorbatschows Reformen. "Sie haben gesehen, dass sie mit gewöhnlichen politischen Mitteln nichts erreichen. Deshalb haben sie sich für einen Putsch entschieden", erinnert sich Gorbatschow.
Mit der Begründung, Gorbatschow sei krank, sperren die Verschwörer den Staatschef mit seiner Familie in dessen Urlaubsresidenz auf der Krim ein und kappen alle Verbindungen zur Außenwelt. In der Sowjetunion wird der Notstand ausgerufen und in Moskau fahren Panzer auf. Die Putschisten erklären, dass sie die UdSSR vor einer "Katastrophe" bewahren wollen.
Mit Vollgas in den Abgrund
Der Staatsstreich scheitert. August 1991 ist die Sternstunde des frisch gewählten Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, der sich als Gegner der Kommunisten profiliert. Zehntausende Menschen versammeln sich neben seinem Amtssitz in Moskau, dem Weißen Haus, um gegen den Putsch zu demonstrieren. Alles bleibt friedlich, doch die Lage ist unübersichtlich. Drei Menschen sterben, als nachts eine Panzerkolonne durch die Innenstadt fährt. Nach drei Tagen wird der Notstand aufgehoben und der sichtlich angeschlagene Gorbatschow kehrt am 22. August nach Moskau zurück. Putschisten werden festgenommen, einige von ihnen begehen Selbstmord. Die Kommunistische Partei wird verboten.
Mit dem Putsch wollen die Hardliner die Sowjetunion retten, doch er wirkt wie ein Katalysator. Noch während des Staatsstreichs erklärt Estland die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Es folgen die Ukraine und bald auch die anderen Republiken. Gorbatschow greift vergeblich den neuen Staatsvertrag wieder auf. Drei Monate nach dem Putsch gründen die Präsidenten Russlands, der Ukraine und Belarus die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Am 21. Dezember 1991 erklären Russland und die übrigen Nachfolgerepubliken die Sowjetunion für aufgelöst. Präsident Gorbatschow ist entmachtet und tritt Tage später zurück.
"Sich selbst den Strick um den Hals gelegt"
20 Jahre später sieht Gerhard Simon, Osteuropa-Experte der Universität zu Köln, immer noch "Rätselhaftes" darin, dass der Zerfall der UdSSR "so rasch und vergleichsweise gewaltlos passiert ist". "Kann eine Weltmacht wirklich auf diese Weise abtreten, wie man im Theater den Vorhang runter lässt und nach Hause geht?" Simon glaubt, dass die Stärke der Sowjetunion überbewertet war: "In Sachen Atomwaffen war sie sicherlich stark, doch in der Wirtschaft war die Sowjetunion niemals konkurrenzfähig mit den USA."
Die Konkurrenz zwischen dem Kommunismus und dem Kapitalismus habe beim Untergang der UdSSR eine wichtige Rolle gespielt, meint Simon. "Das sowjetische System ist auch daran zu Grunde gegangen, dass es den Westen gab – bessere Wirtschaft, größere Freiheit, die Faszination vom 'Goldenen Westen'." Ob Autos, Schuhe oder Kosmetik – Millionen Sowjetbürger hätten von westlichen Waren geträumt, die sie sich nicht leisten konnten, so der Experte. "Der 'große Fehler' der sowjetischen Propaganda und Ideologie war, dass sie sich von Anfang an immer mit dem Westen verglichen hat. Sie haben sich selbst den Strick um den Hals gelegt", betont Simon.
Jelzin wollte das Ende der Sowjetunion
Erstaunlich findet der Osteuropa-Experte die Entwicklung im Kernland der Sowjetunion. "Das ist im internationalen historischen Vergleich sehr selten, dass die staatstragende Gruppe – die Russen, beziehungsweise ihre politische Klasse – die Sowjetunion nicht mehr wollte", so Simon. Gemeint ist Boris Jelzin, der "auf den Geschmack der Macht" gekommen sei. Jelzin habe die Souveränität Russlands vorangetrieben und später angeordnet, dass sowjetischen Behörden in Moskau kein Geld mehr gezahlt wird. "Jelzin wollte die Sowjetunion zu Ende bringen – daran ist gar kein Zweifel", stellt Simon fest.
Jelzin habe aber 1991 gegenüber den anderen Sowjetrepubliken nicht altruistisch gehandelt. Der russische Präsident habe gedacht, dass Moskau seinen Einfluss in der GUS behalten würde, so Simon. Dass es dann doch anders gekommen sei, zeige, dass "auch Jelzin und seine Leute – wie vorher Gorbatschow – die Folgen ihres Handelns nicht richtig eingeschätzt" hätten.
Autor: Roman Goncharenko
Redaktion: Markian Ostaptschuk/Frank Wörner