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"Judenboykott" und "Arierparagraph"

Marc von Lüpke-Schwarz15. April 2013

Im April 1933 holten die Nationalsozialisten zum Schlag gegen die deutschen Juden aus. Auf den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April folgte kurz darauf die Einführung des "Arierparagraphen".

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SA-Männer kleben während des Dritten Reiches ein volksverhetzendes Plakat mit der Aufschrift "Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden" an der Schaufensterscheibe eines Geschäfts, das in jüdischem Besitz ist.
Judenverfolgung im Dritten ReichBild: picture-alliance/dpa

Am Samstag, den 1. April 1933, spielten sich in ganz Deutschland bedrohliche Szenen ab. Männer in den braunen Uniformen der nationalsozialistischen Sturmabteilung, SA, postierten sich vor jüdischen Geschäften, Anwaltskanzleien und Arztpraxen. Potenzielle Kunden bedrohten die SA-Männer mit Gewalt. Auch die Botschaften auf ihren mitgebrachten Schildern waren eindeutig: "Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!" Zusätzlich streiften SA-Leute durch die Straßen und schrien ihre Hassparolen hinaus. Die Aktion war keineswegs nur ein makabrer Aprilscherz. An diesem Tag begannen die Nationalsozialisten ihren "Judenboykott", der die rücksichtlose Verfolgung der jüdischen Deutschen einleitete.

Die "Lösung der Judenfrage"

Schon seit den 20er Jahren hatte Adolf Hitler fanatisch die "Lösung" der vermeintlichen "Judenfrage" gefordert. Nun war er in der Position, dem Hass seiner Gefolgsleute auf die Juden freie Bahn zu verschaffen. Denn Hitler regierte Deutschland seit dem März 1933 mit diktatorischen Vollmachten. Die Grundrechte der Weimarer Verfassung waren außer Kraft gesetzt, und seit der Verabschiedung des sogenannten "Ermächtigungsgesetzes" konnte die Regierung Gesetze ohne jegliche Kontrolle erlassen. Zunächst hatten die Nationalsozialisten ihre Macht genutzt, um ihre politischen Feinde erbarmungslos zu verfolgen, nun wandten sie sich gegen die Juden. In ihnen sahen sie die Feinde der "arischen" Rasse, die es zu bekämpfen galt.

In den Zeitungen kündigte das Regime den Boykott groß an. Die Parteisoldaten von SA und SS wurden zu den Aktionen regelrecht aufgehetzt. Zur Koordination hatte man das "Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze" eingerichtet, das von Julius Streicher, einem fanatischen Judenhasser, geleitet wurde. An vielen Orten kam es darüber hinaus zu willkürlicher Brutalität. Im sächsischen Annaberg misshandelten SS-Leute zum Beispiel Menschen, die aus jüdischen Geschäften kamen. Sie pressten ihnen einen Stempel ins Gesicht, auf dem stand: "Wir Verräter kauften bei Juden."

Der Nazi-Hetzer Julius Streicher.
Fanatischer Judenhasser: Julius StreicherBild: picture alliance/akg-images

Boykott am Sabbat

In anderen Gegenden zertrümmerten SA-Leute Geschäftseinrichtungen und Büros. Zum Glück für die Opfer der antisemitischen Ausbrüche war der Beginn des Boykotts auf einen Samstag gelegt worden, den jüdischen Sabbat. Viele jüdische Geschäfte hatten daher geschlossen. Durch die Zeitungsmeldungen ahnten viele Juden zudem bereits vorher, was auf sie zukommen könnte.

Die boykottierten Juden reagierten geschockt und mit Unverständnis. Ein Jude aus Hamburg war fassungslos: "Ich war sehr deutsch eingestellt, ich konnte das alles nicht begreifen". Ein jüdischer Kaufmann in Berlin hängte gar ein Plakat in sein Schaufenster, auf dem er auf seine Verdienste als Soldat im Ersten Weltkrieg verwies: "Vier Jahre habe ich für Deutschland mein Leben eingesetzt." Für die meisten Juden bildete der 1. April 1933 den Anfang vom Ende der Illusion, als gleichberechtigte Deutsche akzeptiert zu werden. Die meisten von ihnen klammerten sich an die Hoffnung, dass die Regierung Hitler stürzen werde oder es zumindest nicht schlimmer würde.

Kein voller Erfolg

Auch die nichtjüdischen Deutschen reagierten meist anders, als es sich die Nationalsozialisten erhofft hatten. Die Bevölkerung beteiligte sich kaum an den Protestaktionen. Ein Zeitgenosse drückte stellvertretend die allgemeine Meinung aus: "Ich halte das Ganze für Unsinn, aber ich kümmere mich nicht darum." Gleichgültigkeit lautete die Devise der meisten Deutschen. An manchen Orten solidarisierte sich die Bevölkerung allerdings auch mit den boykottierten Juden. In Hannover soll es zu Handgreiflichkeiten zwischen Kaufwilligen und SA-Leuten gekommen sein, als Letztere sie daran hinderten, ein jüdisches Geschäft zu betreten.

circa 1930: Adolf Hitler(Photo by Keystone/Getty Images)
Ordnete den "Judenboykott" persönlich an: Diktator Adolf HitlerBild: Getty Images

Gegen Abend des 1. April setzte die Parteiführung den Boykott aus. Man war frustriert über die mangelnde Begeisterung unter den Deutschen. Zudem mehrten sich die Stimmen, die ernsthafte Folgen für die deutsche Wirtschaft prophezeiten, falls der Boykott in dieser Form aufrechterhalten würde. Dennoch gelang es den Nazis mit dem Boykott, die Juden weiter auszugrenzen: Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hielt sich in der Zukunft eher an die "deutschen" Geschäfte.

Der "Arierparagraph"

Nur sieben Tage nach dem "Judenboykott" machten die Nationalsozialisten den nächsten Schritt zur Ausgrenzung der Juden. Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 enthielt einen folgenschweren antijüdischen Paragraphen. "Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen", lautete der diskriminierende Abschnitt. Die Nationalsozialisten zogen mit diesem Gesetz eine deutliche Linie zwischen den "arischen" Deutschen und den angeblich "minderwertigen Juden". Wer einen jüdischen Eltern- oder Großelternteil in seiner Abstammung hatte, war dem Gesetz zufolge "nichtarisch".

Damit hatten die Nationalsozialisten das erste rassistische Gesetz ihrer Herrschaftszeit auf den Weg gebracht. Der "Arierparagraph" wurde schnell auf immer mehr Berufsgruppen ausgeweitet, bald drängte das Regime mit Hilfe des Gesetzes die Juden aus den Amtsstuben, Schulen, Universitäten und anderen öffentlichen Stellen.

Für die Juden, die sich in ihrer übergroßen Mehrheit als Deutsche verstanden, zog sich die Schlinge der Verfolgung immer weiter zu. Die meisten "arischen" Deutschen verhielten sich dagegen so, wie sie auch auf den "Judenboykott" reagiert hatten: gleichgültig.