Wie eine "Nacktparty" in Russland zum Politikum wird
30. Dezember 2023Sex and Crime and Rock'n'Roll und am Ende eine Reihe medienwirksamer Reuebekenntnisse von berühmten Gesichtern des russischen Show-Business: Diese Geschichte knallte wie ein Silvesterböller in Russland und beschäftigt inzwischen nicht nur die Klatschpresse, sondern auch die üblichen Akteure des Politikbetriebs: von der Duma über die Staatsanwaltschaft bis zum Kreml.
Am 20. Dezember veranstaltet eine landesweit bekannte Bloggerin eine Party in einem Moskauer Techno-Club. Sie lädt dazu die Größen des russischen Pop-Geschäfts ein, allen voran die Pop-Ikone Filip Kirkorow, die Sängerin Lolita, Russlands Eurovision-Gewinner Dima Bilan und die Star-Journalistin Ksenija Sobtschak. Der Eintritt kostet laut Medienberichten bis zu eine Million Rubel, das sind mehr als 10.000 Euro. Getreu dem Dresscode "almost naked" erscheinen die Gäste je nach Gesinnung, Geschmack oder Geldbeutel in durchsichtigen Blusen, knappen Höschen oder erotisch anmutenden Dessous. Ein Rapper kommt nackt, sein Geschlechtsteil ist mit nur einer weißen Socke bedeckt, eine Hommage an die Red Hot Chili Peppers aus den 1980ern, wie er später dem Gericht erklärt. Besonders unsittliches Verhalten lässt sich auf den Bildern und Videos, die bekannt sind, nicht entdecken. Die Party scheint eine Art Mischung aus Karneval und Halloween gewesen zu sein und in westlichen Ländern wohl keinem Boulevard-Blatt eine Zeile wert.
Ausgelassen posieren die Gäste für Fotos und Videos, die Party scheint ein Erfolg zu sein. So lange, bis eben diese Fotos und Videos in die Hände derjenigen gelangen, denen die zur Schau gestellte Sause halbnackter Eliten zu weit geht. Zahlreiche regierungsfreundliche Aktivisten und später auch ganze Verbände beschweren sich bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft über das angeblich unmoralische Verhalten mitten in der russischen Hauptstadt.
Sie fordern die Organisatoren auf, die so genannte "Schwulenpropaganda" und "Drogenpropaganda" zu überprüfen. Die Party finde ausgerechnet zu einer Zeit statt, in der das Land die spezielle Militäroperation (wie der Krieg in Russland offiziell heißt) durchführe und für traditionelle Werte eintrete, beklagen die Moralwächter und weisen insbesondere darauf hin, dass Pop-König Kirkorow "in mit Straß verzierten Netzteilen und engen Hosen tanzte".
"Schwulenpropaganda" kontra russische moralische Werte
Gleichzeitig bittet eine Duma-Abgeordnete die zuständigen Behörden, zu prüfen, ob die Veranstaltung mit dem "Verbot von LGBT-Propaganda" und dem Erlass des russischen Präsidenten über die Bewahrung und Stärkung "traditioneller russischer geistiger und moralischer Werte" in Einklang steht.
Die Geschichte gewinnt an Fahrt als die Pop-Stars zuerst spöttisch in den sozialen Medien reagieren. Doch dann erscheint ein Video, auf dem sich Sänger Kirkorow am Rande einer Premierenfeier in einer privaten Unterhaltung mit dem Kremlsprecher Dmitri Peskow für seine Teilnahme an der Party zu rechtfertigen versucht.
Ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht die Geschichte, als der Rapper mit der Socke auf dem Penis verhaftet und von einem Moskauer Gericht zu 15 Tagen Gefängnis sowie einer ordentlichen Geldstrafe verurteilt wird. Vorwurf: Rowdytum und "Schwulenpropaganda". Der Veranstalterin drohen die Behörden mit einer umfangreichen Steuerfahndung und verurteilen sie schließlich zu einer Geldstrafe von 100.000 Rubel, das sind umgerechnet über 1000 Euro.
Die Stars zeigen Reue
Und dann passiert etwas, womit niemand in Russland rechnet, so zu sagen ein Wendepunkt im Sinne der klassischen Dramaturgie. Die gestern noch lachenden und zurückspottenden Stars veröffentlichen fast gleichzeitig Reuevideos, in denen sie beteuern, nichts über den "wahren Charakter" der Party gewusst zu haben, niemals erwartet oder gedacht zu haben, was dort "wirklich passieren würde".
Pop-Ikone Kirkorow, dessen Beliebtheit in Russland mit der von Madonna im Westen zu vergleichen wäre, fügt hinzu, dass Künstler "in dieser schwierigen Zeit, einer Zeit des Heldentums" bei der Auswahl von Veranstaltungen "vorsichtiger" sein sollten: "Ich bin nur ein Künstler meines Landes. Ich bin nur ein Patriot meines Landes. Ich habe nie versucht, mich auf zwei Stühle zu setzen, ich habe nie etwas verlassen oder verraten. Ich liebe nur meine Zuschauer und Zuhörer. Ich erkenne den Fehler, den ich gemacht habe."
Doch das kommt zu spät. Längst beginnen die Veranstalter, die Konzerte der reumütigen Stars abzusagen. Auch kündigen die Fernsehsender an, die musikalischen Nummern mit den betroffenen Stars aus den längst aufgenommenen Silvesterkonzerten in letzter Minute herauszuschneiden. Sogar eine Filmkomödie wird nachgedreht, deren Premiere kurz vor Silvester ansteht. Das Millionenpublikum muss einer nie dagewesenen Verfolgung ausgerechnet derjenigen zuschauen, die mit ihrem Verbleib und ihren Konzerten in Russland ihre Treue dem Kreml und ihre Befürwortung seiner Politik demonstrierten.
Unerwartet harte Reaktion des Kreml
Für den im Ausland lebenden russischen Musikkritiker Artemi Troizki ist die ganze Geschichte ein Gradmesser "der totalitären Degradierung Putin-Russlands". Seiner Einschätzung nach hätten die Menschen eine derart harte Reaktion der Behörden nicht erwartet und seien deswegen schockiert. Im Gespräch mit der DW analysiert Troizki: "Man dachte, der Kreml führe einen Krieg nur gegen die politischen Aktivisten, die an den Antikriegsprotesten teilnehmen, in Wirklichkeit aber passieren gerade Dinge, die noch vor einem Jahr untypisch gewesen wären für dieses Land."
Das bedeute, dass Russland ein Staat sei, der eine totale Kontrolle fordere. Auf die Frage, ob der Vorwurf der kremltreuen Aktivisten gerechtfertigt sei, in Kriegszeiten ausgelassene Partys zu feiern, erwidert Troizki: "Der Krieg selbst ist ungerechtfertigt. Was die Reaktion darauf angeht, so kann man das unterschiedlich bewerten. Natürlich sind solche Partys ein Tanz auf dem Vulkan. Viele, sowohl solche, die den Krieg unterstützen als auch solche, die ihn kritisierten, verachten solche Partys."
Die russische Pop-Industrie insgesamt erscheint laut Troizki in keinem guten Licht: "Fast alle begabten Musiker haben Russland inzwischen verlassen. Geblieben sind entweder vereinzelt mutige Kämpfer oder stümperhafte Konformisten, die die Machthaber unterstützen und sich damit ihren Wohlstand und ihre Sicherheit garantieren." Die moderne russische Kultur werde sich nach dem Muster von Nord-Korea entwickeln, resümiert der Musikexperte: "Es werden dort künftig ausschließlich Militärmärsche erklingen."
Für den ebenfalls im Exil lebenden russischen Politikwissenschaftler Dmitri Oreschkin ist klar, dass die Verfolgung der Pop-Stars eine koordinierte Kampagne gewesen sei. Gegenüber der Deutschen Welle vermutet er: "Wenn sie nicht verstehen würden, dass der Befehl von ganz oben kam, würden sie nicht medienwirksam im Chor ihre Reue zeigen."
Der Krieg ist im Alltag angekommen
Oreschkin sieht einen Paradigmenwechsel in der russischen Ideologie. Früher sei die Politik des Kremls darauf ausgerichtet gewesen, den Krieg von den breiten Massen fernzuhalten, "nach dem Motto: unser Leben geht weiter, niemand muss leiden, alles ist gut und wir feiern unsere Partys. Die Geschäfte sind voll, die Sanktionen werden erfolgreich bekämpft, die Wirtschaft wächst, alle tanzen und singen."
Anscheinend hätten die feiernden Pop-Eliten nicht mitbekommen, dass sich das inzwischen geändert habe. "Nichts ist so wie es war. Das ganze Land muss auf wichtige Sachen verzichten, das ganze Land ist im Kriegszustand" und es gehe nicht, dass manche dabei "ihren nackten Hintern zeigen". Die Botschaft sei klar: der Krieg werde nicht mehr irgendwo an der Peripherie geführt, sondern sei im Alltag angekommen. Wer das bisher nicht verstanden habe, dem sollte das spätestens jetzt klar sein.
Auch vermutet Oreschkin, dass die Party in Moskau für die russische Propaganda gefundenes Fressen sei, um von den aktuellen Problemen abzulenken, allen voran vom Luftangriff der ukrainischen Streitkräfte auf ein russisches Kriegsschiff auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim. Darüber hinaus brauche die Propaganda einen gemeinsamen Feind, einen Sündenbock, um das Volk in schweren Zeiten zu konsolidieren, nach dem populistischen Motto: "Lasst uns diese dekadenten Eliten bestrafen, dann geht es auch dem einfachen Volk besser."
Ob sich das einfache Volk freut, ausgerechnet in der Silvesternacht auf die beliebten Pop-Stars verzichten zu müssen, ist fraglich. Genauso unklar ist auch, ob die Geschichte über eine "fast nackte Party" in einem Moskauer Club nach der öffentlichen Reue ihrer berühmten Teilnehmerinnen und Teilnehmer wirklich zu Ende erzählt ist. Ein Triumph der russischen Sittenwächter und eine Lektion ist sie allemal.