Wie eine äthiopische Schule HIV-positive Kinder unterstützt
22. September 2019Es ist früh am Morgen in Shashamane, 250 Kilometer südlich von Addis Abeba. Strahlende Kinder rennen durch das Schultor. Bevor der Unterricht losgeht, spielen sie noch eine Weile auf dem grünen Pausenhof. Das Yawenta Children's Center ist alles andere als eine normale äthiopische Schule. 100 besonders verletzliche Kinder bekommen hier kostenlos eine alternative Schulbildung und medizinische Unterstützung. Etwa die Hälfte von ihnen ist HIV positiv.
"Das Projekt wurde initiiert, als die Regierung begann, antiretrovirale Medikamente für Kinder bereitzustellen", erzählt Bérénice Morizeau. Vor sechs Jahren hat die Französin das Zentrum übernommen und betreibt es mit inzwischen mehr als zwanzig einheimischen Mitarbeitern, mit denen sie sich fließend auf Amharisch unterhält.
"Die Überlegung war: Ja, die Kinder bekommen kostenlose Medikamente. Aber ohne eine gute Ernährung und ohne hygienische Unterstützung wird das nichts bringen. Sie sind trotzdem immer noch einer Reihe von gefährlichen Infektionskrankheiten ausgesetzt", sagt Morizeau. Und sie betont: "Es sind Kinder. Deshalb muss man immer auch Erziehung und Bildung mit bedenken."
Praktische Fähigkeiten
Das Zentrum ist als offizielle Schule anerkannt und orientiert sich am Bildungskonzept der Montessori-Schulen. Zusätzlich zum normalen Lehrplan können sich die Kinder für unterschiedliche praktische Aktivitäten entscheiden, etwa für Musik, Sport oder Nähen. Seit einigen Wochen kommt regelmäßig ein bekannter Musiker aus der Gegend in die Schule, um Gesangs- und Gitarrenstunden zu geben: Ras Kawintesseb ist Teil der berühmten Rastafari-Community in der Stadt. Gleich zu Beginn des Schultags singen einige Kinder mit ansteckender Begeisterung zu seinem Gitarrenspiel. Andere basteln an kleinen Schachteln aus Holz, die sie stolz vorzeigen.
Laut Morizeau sind diese praktischen Fähigkeiten für das spätere Leben der Kinder besonders wichtig. "Nicht alle werden zur Universität gehen können, das wissen wir jetzt schon. Es ist schon schwer genug für diese Kinder, es überhaupt auf die Oberschule zu schaffen. Das ist unser Minimalziel. Die praktischen Fähigkeiten helfen ihnen aber in jedem Fall, ob sie nun die Schule abbrechen und einen Job finden müssen oder ob sie Ärzte oder Ingenieure werden."
AIDS in Äthiopien
Es ist schwer zu beurteilen, wie weit verbreitet HIV in Äthiopien aktuell ist. In der Vergangenheit hat es immer wieder Probleme bei der Sammlung von zuverlässigen Daten gegeben. Dem AIDS-Programm der Vereinten Nationen (UNAIDS) zufolge lebten im Jahr 2018 690.000 Menschen in Äthiopien mit dem HI-Virus, rund ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung. In Shashamane ist der Anteil besonders hoch.
"AIDS war lange Zeit ein Tabu. In Shashamane ist die Krankheit besonders weit verbreitet, weil die Stadt ein wichtiges regionales Zentrum ist. Es gibt viele LKW-Fahrer, viel Prostitution und einige Kasernen. Alle gehören zu den HIV-Risikogruppen", erklärt Bérénice Morizeau.
Dass die Kinder gesund bleiben, hat im Yawenta Children's Center Priorität. Immer wieder gibt es Unterrichtseinheiten zur richtigen Körperhygiene, kleinere Kinder werden regelmäßig gebadet. Jeden Tag gibt es zwei Mahlzeiten und zwei kleine Snacks. Nach dem Frühstück sorgt die Schulärztin Misa Bekele dafür, dass alle Kinder ihre Medikamente einnehmen. Farbenfrohe Becher stehen auf dem Tisch bereit und Misa notiert sich, wer fehlt. In stiller Atmosphäre schlucken die Kinder ihre Pillen, bevor sie wieder nach Draußen rennen. Im Idealfall sollen sie die Medikamente zwei Mal am Tag einnehmen. Doch zuhause fällt es ihnen häufig schwer, sich daran zu halten.
"Manche der Kinder haben keine Mutter, ihr Vater ist auf der Arbeit, und dann vergessen sie es. In der Folge sinkt die Zahl der T-Zellen und sie werden krank", sagt Misa. T-Zellen sind wichtig für das menschliche Immunsystem. Das HI-Virus greift diese Zellen an, was letztendlich zu AIDS führen kann. "Aber selbst wenn sie ihre Medikamente abends nicht einnehmen - wir stellen zumindest sicher, dass sie sie morgens bekommen."
Psychologische Unterstützung
Dazu kommt: Viele der Kinder kommen aus besonders benachteiligten Familien, haben häufig Missbrauch und andere traumatische Erfahrung hinter sich. Einige sind Waisenkinder. Deshalb unterstützt das Zentrum die Schüler auch psychologisch.
Eine besondere Rolle nimmt dabei die Aufklärung über HIV ein. "Es ist sehr schwer jemandem zu erklären, dass er oder sie HIV positiv ist. Wir müssen den Kindern schrittweise beibringen, dass ein Virus in ihrem Körper ist und sie ihre Medizin nehmen müssen, damit sie keine anderen Krankheiten bekommen", sagt Misa.
In Gruppensitzungen können die Kinder außerdem lernen, mit Emotionen umzugehen oder schwierige Themen wie Geld oder den Tod anzusprechen. Heute erzählt der 14-jährige Eyob von einer schmerzhaften Erinnerung, als er seinen Ärger gegenüber einem Mitschüler nicht kontrollieren konnte. Er mag diese Gespräche, weil er sich nicht verurteilt fühlt. "Wir haben diskutiert, was wir tun, wenn wir gestresst oder unglücklich sind. Wir haben hier keine Angst uns mitzuteilen, weil wir nicht bestraft werden, wenn wir etwas Schlechtes getan haben. Die anderen können so besser verstehen, was passiert ist", erklärt er.
Ein Modell für Äthiopien und darüber hinaus?
Trotz der finanziellen Schwierigkeiten sieht Schulleiterin Bérénice Morizeau das Yawenta Children's Center als Modell für das ganze Land. In Äthiopien seien Projekte für HIV-positive Kinder immer noch selten und meistens sehr eindimensional. Das müsse sich ändern, sagt die Französin, die ihr Herz an das ostafrikanische Land verloren hat. "Sie kommen jeden Tag zu uns und bekommen die Aufmerksamkeit, die sie daheim nicht bekommen. Viele kommen sehr jung zu uns und wir stecken ihnen Ziele. Wir wollen, dass sie lernen und Erfolg haben. Allein das ist schon eine riesige Veränderung in ihrem Leben, weil die meisten Eltern in so schwierigen Situationen sind, dass sie gerade einmal die Kraft haben, sich selbst über Wasser zu halten." Langfristig wünscht sich Morizeau, dass Zentren wie Yawenta auch in anderen Städten in Äthiopien entstehen – und vielleicht sogar in anderen Ländern.