Frankreichs (neue) Reformkultur
17. Juni 2017Im Volk ist er beliebt, der neue Premierminister - die Zustimmungswerte sind wenige Wochen nach seinem Amtsantritt gut. Schon kurz nach seiner Ernennung durch den Staatspräsidenten wirft er sich, wie er es nennt, in die "Schlacht um mehr Arbeitsplätze". Doch viel Geld zum Verteilen hat die Regierung nicht. Die Maastricht-Kriterien will Paris unbedingt einhalten und die Sozialversicherungen sind hoch verschuldet. Bei rund drei Millionen arbeitslosen Franzosen und immer weniger Beitragszahlern wächst das Defizit mit jedem Tag.
Doch der Premierminister hat einen Plan: Im öffentlichen Dienst sollen die Angestellten erst später in Rente gehen und die Sozialversicherung völlig neu organisiert werden. Von der größten Reform der "Sécurité Sociale" seit ihrer Gründung 1945 sprechen die Experten. Die gemäßigte Gewerkschaft CFDT hat der noch nicht einmal 50 Jahre alte Premierminister auf seiner Seite.
Gescheiterte "Globalisierungskur"
Doch schon ein paar Wochen später dreht sich der Wind: Radikale Gewerkschaften entfachen in Frankreich einen Generalstreik, dem sich Teile der Bevölkerung anschließen. Drei quälend lange Wochen fahren im ganzen Land kaum noch Züge, wird die Post nicht mehr zugestellt. Eine geregelte Straßenreinigung und die Müllabfuhr gibt es ebenfalls nicht mehr - das Militär rückt aus den Kasernen, um zumindest eine Notversorgung zu etablieren.
Wer jetzt an Staatspräsident Emmanuel Macron und seine Regierung denkt, liegt aber falsch. Wir schreiben das Jahr 1995 und es herrscht Chaos in Frankreich, als Premierminister Alain Juppé dem Land eine "Globalisierungskur" verpassen will - und am Ende bei seinen zentralen Rentenplänen vor der Macht der Straße einknickt.
Emmanuel Macron steht zur Jahreswende 1995/96 kurz vor seinem Abitur und ist ein junger Berufsanfänger im Staatsdienst, als im Frühjahr 2006 wieder eine Regierung bei einem zentralen Reformvorhaben einknickt. Der konservative Premierminister Dominique de Villepin lässt im Frühjahr 2006 eine bereits vom Parlament beschlossene neue Arbeitsmarkt-Gesetzgebung fallen, nachdem es zu landesweiten Schüler- und Studentenprotesten gekommen war.
Sozialer Dialog traditionell schwach
Die Beobachter sind sich einig: Beide Reformvorhaben scheiterten nicht nur am mangelnden Reformwillen der Franzosen, sondern auch an Kommunikationsfehlern der Regierung. "Die Franzosen stellen große Erwartungen an den Staat, dass er seine Schutzfunktion in sozialer Hinsicht erfüllt", so die Politikwissenschaftlerin Julie Hamann von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. "Sobald Reformen angekündigt werden, die zu einem Sozialabbau oder einer Prekarisierung führen können, werden sehr schell sehr große und sehr emotionale Befürchtungen wach."
Doch der junge Präsident und seine Regierung haben tiefgreifende Reformen zur Priorität ihrer Amtszeit erklärt. In den kommenden anderthalb Jahren will die Regierung sechs umfassende Sozialreformen in Kraft setzen. Auch gegen den Widerstand radikaler Gewerkschaften, die für den kommenden Montag zu ersten Protestkundgebungen aufgerufen haben. Die Politikwissenschaftlerin Hamann, die über Protestbewegungen in Frankreich forscht, sieht trotzdem eine Gelegenheit für eine Reformagenda: "Generell herrscht in Frankreich, auch unter den Gewerkschaften, das Bewusstsein, dass Reformen nötig sind. Und auch der Wille ist vorhanden, diese Reformen durchzuführen." Lähmenden Widerstand aus den eigenen Reihen, wie er die sozialistische Vorgängerregierung blockierte, hat Macron nicht zu befürchten. Nach dem kommenden Wahlsonntag dürfte der Präsident über eine reformbereite große Mehrheit im Parlament verfügen.
Machtverschiebungen bei den Gewerkschaften
Nicht nur der Mentalitätswandel nach mehr als 20 Jahren gescheiterter Reformversuche spielt der Regierung in die Hände. Auch Machtverschiebungen im Gewerkschaftslager dürften die Verhandlungen vereinfachen. Die radikale CGT, über Jahrzehnte die stärkste Gewerkschaft in Frankreich, hat viel Einfluss an gemäßigte Arbeitnehmervertreter verloren. Dieses Lager ist zu einer Verständigung mit der Regierung grundsätzlich bereit. Zudem kann der Präsident auf ein "Reformmandat" verweisen, da er im Wahlkampf umfassende Einschnitte angekündigt hat. Entscheidend für den Erfolg, so sieht es Julie Hamann, ist die Kommunikation. Ein offen auf der Straße ausgetragener Machtkampf dürfe gar nicht erst zum dominanten Bild werden. "Der Schlüssel liegt darin, wie die Regierung und wie Präsident Macron mit den verschiedenen Sozialpartnern und auch mit der Bevölkerung kommunizieren."
Premierminister Edouard Philippe kann für die anstehenden Verhandlungen mit den Gewerkschaften aus den Erfahrungen seines politischen Ziehvaters Alain Juppé lernen. Juppés zunächst harter Kurs gegen die Demonstranten im Protest-Herbst 1995 endete im Autoritäts- und späteren Machtverlust der Regierung.