Wie gefährdet sind Lokalpolitiker in Deutschland?
20. Juni 2019Rostock an der deutschen Ostseeküste im Jahr 2019: Kommunal-Politiker aus dem linken Parteienspektrum müssen dieser Tage bei der Kriminalpolizei vorstellig werden. Nicht, weil sie etwas verbrochen habe, sondern zu einer Zeugenvernehmung und als Schutzmaßnahme. Sie stehen auf einer "Todesliste" von Rechtsextremen. Im Krisenfall gelte es, so steht es in gefundenen Aufzeichnungen, "Vertreter des politischen Spektrums festzusetzen und mit ihren Waffen zu töten".
Die Liste wurde schon vor zwei Jahren gefunden. Die bedrohten Personen haben erst jetzt davon erfahren. Sie möchte wissen, warum sie so lange nichts von der Liste wusste, sagte die Linken-Politikerin Eva-Maria Kröger im Vorfeld der Vernehmung. Und sie will wissen, was "über mich und ob etwas über meine Familie in den Unterlagen steht", sagte sie in einem Interview. Kröger ist eine der wenigen, die überhaupt an die Öffentlichkeit ging. Die Angst ist groß.
Innenminister: "Angriff auf den Staat"
Der Mord an Walter Lübcke Anfang Juni in seinem Wohnhaus hat die Angst vor rechtsextremem Terror in Deutschland wieder in die Schlagzeilen gebracht. Ein Teil der Diskussion ist: War es eine Einzeltat oder steckt ein Netzwerk dahinter? Sollten sich Täter und Tatmotiv bestätigen, wäre es der erste vollendete rechtsterroristische Mordanschlag auf einen Politiker in Deutschland seit Ende des Nationalsozialismus 1945.
Bundesinnenminister Horst Seehofer warnte Anfang der Woche in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit den Spitzen der deutschen Sicherheitsbehörden: "Ein rechtsextremer Anschlag auf einen führenden Repräsentanten unseres Staates ist ein Alarmsignal und richtet sich gegen uns alle."
Dass Seehofer nicht übertrieben hat, zeigen neue Morddrohungen, die nun nach Medien- und Polizeiangaben mehrere Bürgermeister und Politiker erreicht haben. Darunter sollen auch Personen sein, die schon einmal angegriffen wurden.
Gewalt als politische Auseinandersetzung ist zurück
Die Flüchtlingskrise 2015/16 hat die Stimmung in Deutschland verändert. Nicht nur die "Alternative für Deutschland" konnte sich in diesem Zuge etablieren. Die politische Auseinandersetzung geriet aus den Fugen. Es gab Morddrohungen, gefälschte Todesanzeigen, angezündete Autos. Manche kapitulierten.
Im März 2015 trat der Bürgermeister von Tröglitz zurück, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Direkt an seinem Wohnhaus vorbei sollte es einen Demonstrationszug der NPD gegen ihn geben. Der Bürgermeister hatte ein Flüchtlingsheim geplant. Der Landrat Erich Pipa zog Mitte 2017 einen Schlussstrich und gab sein Amt auf. Jahrelang hatte er Drohbriefe wegen seiner Flüchtlingspolitik bekommen.
Auch andere gaben auf - zum Beispiel in Handorf und in Elmshorn.
In manchen Fällen blieb es nicht bei Ankündigungen. 2015 wurde die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker(Foto), bei einem Wahlkampfauftritt lebensbedrohlich verletzt. Der Täter nannte Rekers Flüchtlingspolitik als Grund. Sie erholte sich und machte als Bürgermeisterin weiter. 2017 wurde der Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein, in einem Imbiss mit einem Messer bedroht - wegen seiner "liberalen Flüchtlingspolitik", sagte der Täter. Auch er blieb Bürgermeister.
Nun sollen beide - Reker und Hollstein - neue Morddrohungen erhalten haben.
Nur die Spitze des Eisbergs
Es gibt tausende Lokal- und Kommunalpolitiker in hunderten Gemeinden, kleinen und mittelgroßen Städten. Ihr teilweise ehrenamtlicher Job, also ohne Bezahlung, ist essentiell für das politische System.
Seit 2016 führt das Bundeskriminalamt eine eigene Statistik für "politisch motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger", also auch gegen gewählte oder angestellte Politiker. Bundesweit gab es 2018 laut dieser Statistik insgesamt 1256 politisch motivierte Straftaten wie Beleidigungen und Bedrohungen. Rund 40 Prozent wurden dem rechtsextremen Milieu zugeordnet. Die Statistik erfasst auch linksextrem motivierte Taten - zum Beispiel gegen Politiker der AfD. Auch gegen sie gibt es persönliche Übergriffe oder Farbbeutelanschläge auf Wohnhäuser - sie machten rund 18 Prozent aus.
Kommunalpolitiker in der Klemme
Personenschützer haben Bürgermeister, Landräte und Regierungspräsidenten in der Regel nicht. Auch weil das finanziell für die meisten Kommunalhaushalte nicht machbar wäre. Dabei sind es gerade Kommunalpolitiker, die täglich Termine absolvieren müssen, bei denen sie Menschen die Hand schütteln. Der Kontakt zu den Bürgern gehört zum Job. Außerdem sind sie ein wichtiges Talentbecken für die nächst höheren politischen Ebenen - also die Landes- und Bundespolitik.
Teil der Debatte über die Sicherheit von Kommunalpolitikern ist die Frage, wie gesetzlich nachgesteuert werden könnte. Das deutsche Strafrecht ist ein Tatstrafrecht und kein Gesinnungsstrafrecht. Hass an sich ist, auch wenn es aus moralischen Gründen abzulehnen ist, erst einmal nicht strafbar. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB), Interessenverband der Gemeinden in Deutschland, versucht seit Jahren einen neuen Straftatbestand einzuführen: Politiker-Stalking - bislang ohne Erfolg.
Nun, im Lichte der neuesten Entwicklungen fordert der DStGB in einem Statement für die DW "zentrale Meldestellen in allen Bundesländern, an die sich die Betroffenen wenden können und von denen aus eine zentrale Verfolgung stattfindet, auch um dahinter stehende Netzwerke aufzudecken". Auch wenn es manchmal schwer falle, heißt es weiter, "fordern wir die betroffenen Personen auf, diese Vorfälle öffentlich zu machen und konsequent zur Anzeige zu bringen".