Wie groß ist die Bedrohung der NATO-Staaten durch Russland?
17. Mai 2024Wenn man sich in Deutschland die Plakate zur Europawahl ansieht, dann spielt Bedrohung dabei eine wichtige Rolle: Sicherheit und Stärke sind Schlagwörter, die immer wieder auftauchen, dazu ernste Gesichter.
Aber auch sonst stimmen deutsche Politiker seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 die Menschen auf bedrohliche Zeiten ein, zumal die Bundeswehr im Verteidigungsfall als hoffnungslos überfordert gilt. Sie könnte nach Meinung führender Militärs weder Deutschland selbst effektiv verteidigen noch die NATO-Bündnisverpflichtung ausreichend erfüllen.
Bundeskanzler tritt auf die Ausgabenbremse
Mehr Geld für die Bundeswehr fordert deshalb Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Zwar hat Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach Kriegsbeginn ein "Sondervermögen" von 100 Milliarden Euro für die Streitkräfte verkündet - in Wirklichkeit neue Schulden. Aber das reicht dem Verteidigungsminister nicht. Er fordert für 2025 mindestens 6,5 Milliarden Euro zusätzlich zum normalen Militärbudget und dass diese Ausgaben von der sogenannten Schuldenbremse im Grundgesetz ausgenommen werden.
Auch der Sicherheitsexperte Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr hält die Streitkräfte trotz der 100-Milliarden-Spritze für "immer noch unterfinanziert". Ohne deutlich mehr Geld würde etwa 2026 der Punkt erreicht sein, wo man nur "mit allergrößter Mühe den laufenden Betrieb aufrechterhalten" könne, mehr nicht, sagt er der DW.
Nach einem Rechtsgutachten aus dem Verteidigungsministerium hat die Fähigkeit zur Landesverteidigung einen höheren Verfassungsrang als die Schuldenbremse, nach der von wenigen Ausnahmen abgesehen nur so viel Geld ausgegeben werden darf, wie der Staat einnimmt.
Doch bisher verweigert Finanzminister Christian Lindner (FDP) mit Unterstützung des Bundeskanzlers die zusätzlichen Milliarden für die Bundeswehr. Scholz' SPD-Parteifreund Pistorius soll darauf in einer Kabinettssitzung entnervt gesagt haben: "Ich muss das hier nicht machen!" Der Streit um die Verteidigungsausgaben steht offenbar kurz vor dem Überkochen.
Was ist, wenn Trump wieder Präsident wird?
Doch wie bedrohlich ist die Lage wirklich? Christoph Heusgen, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, sagte im Februar, Russlands Präsident Wladimir Putin wolle ein Groß-Russland in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion wiederherstellen: "Sollte Putin den Krieg in der Ukraine nicht verlieren, müssen wir damit rechnen, dass er auch nach der Republik Moldau oder den baltischen Staaten greift."
Pistorius sagte in einem Zeitungsinterview, Deutschland habe fünf bis acht Jahre, um militärisch aufzuholen. Der Sicherheitsexperte Fabian Hoffmann von der Universität Oslo meinte Anfang des Jahres auf der Internetplattform X - auf den gesamten Westen bezogen: "Meiner Meinung nach haben wir bestenfalls zwei bis drei Jahre Zeit, um die Abschreckung gegenüber Russland wiederherzustellen."
Frank Sauer sieht noch keine akute Bedrohung für einen NATO-Staat. Aber stellen wir uns einmal vor, so Sauer, Donald Trump würde im November US-Präsident. Der Republikaner wolle Europäer, die ihre "Rechnung" in Form ausreichender Verteidigungsanstrengungen "nicht bezahlt" hätten, nicht länger beschützen. Das Vertrauen in die NATO würde erodieren. Die Europäer könnten bestimmte militärische Aufgaben, die bislang von den USA übernommen werden, selbst nicht leisten, erläutert Sauer. Währenddessen könnte die Ukraine wegen mangelnder westlicher Unterstützung auf einen Rumpfstaat zusammengeschmolzen sein. Der Krieg wäre für Russland so gut wie gewonnen.
"Putin geht auf die 80 zu", spinnt Sauer den Gedanken weiter, "und will jetzt sein Lebenswerk vollenden und ein Großrussland komplettieren. Und dann entschließt er sich zu testen, ob das nicht vielleicht doch geht, und geht in einen oder mehrere der baltischen Staaten rein. Und die USA werden sagen: 'Das ist nicht unser Problem. Ihr bezahlt ja eh Eure Rechnungen nicht, wir sind außerdem mit China beschäftigt.'" Das müsse nicht so passieren, sagt der Sicherheitsexperte, es könne aber. Und dafür setzt er einen Zeitrahmen von etwa fünf Jahren.
Umfrage zeigt geringe Bedrohungsängste
Eine solche Bedrohung scheint die Bevölkerung in Deutschland nicht in gleichem Maße zu empfinden. Nach einer aktuellen YouGov-Umfrage hält nur ein gutes Drittel der Deutschen (36 Prozent) einen russischen Angriff auf NATO-Gebiet bis zum Jahr 2030 für wahrscheinlich oder eher wahrscheinlich, während 48 Prozent das für unwahrscheinlich oder eher unwahrscheinlich halten.
Dass Deutschland in diesem Jahrzehnt Ziel eines russischen Angriffs werden könnte, halten demnach sogar nur 23 Prozent für wahrscheinlich oder eher wahrscheinlich. 61 Prozent sind gegenteiliger Meinung.
Im Falle eines Angriffs wären viele Deutsche sehr beunruhigt. Denn nur zwei Prozent in der Umfrage sind überzeugt, die Bundeswehr sei sehr gut für die Landesverteidigung aufgestellt. Zwölf Prozent sehen die Truppe "eher gut" aufgestellt. Jeweils 39 Prozent sind überzeugt, die Bundeswehr sei für diese Aufgabe sehr schlecht beziehungsweise eher schlecht vorbereitet.
Windräder oder Kampfdrohnen
Was Sicherheitspolitiker und Militärs in Deutschland besonders um den Schlaf bringen dürfte, ist das Ergebnis einer anderen Umfrage des Instituts Civey vom März. Danach wäre nur etwa jeder dritte Deutsche bei einem militärischen Angriff bereit, das Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Mehr als die Hälfte würde nicht kämpfen.
"Wir leben in einer Ära des massiven historischen Umbruchs", sagt Frank Sauer. Diese Erkenntnis sei aber noch längst nicht überall durchgesickert. "Die Umstellung im Kopf dauert. Und das werden wir den Menschen nicht mit der Brechstange oder mit drei Reden oder fünf Schlagzeilen beibringen können." Es sei viel Überzeugungsarbeit nötig.
Was die Kosten für die nötige Aufrüstung der Bundeswehr betrifft, hat der Sicherheitsexperte Verständnis für die schwierigen Abwägungsentscheidungen der Politiker: "Ich will lieber Windräder, Solardächer und Kindergärten bauen, aber wir müssen leider stattdessen Panzerhaubitzen, Marschflugkörper und Kampfdrohnen bauen." Letztlich sei es egal, wie das Geld aufgebracht werde. Aber, davon ist Frank Sauer überzeugt: So wie jetzt kann es nicht weitergehen.