Ist Deutschland auf die nächste Pandemie vorbereitet?
29. April 2024Die Welt hat die Coronavirus-Pandemie weitestgehend überstanden – und bereitet sich bereits auf die nächste vor. Ein globaler Pandemievertrag soll Länder stärker vernetzen. Über einen Entwurf verhandeln derzeit die Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Dass eine nächste Pandemie kommen wird, steht für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler außer Frage. Nach SARS-CoV-2 werden nun Grippeviren, SARS-CoV-3 oder die Pocken als Kandidaten gehandelt. "Die Vogelgrippe wäre ungemütlich", sagt der Molekularbiologe Emanuel Wyler vom Berliner Max-Delbrück-Centrum. "Pocken wären ein kleiner, wenn auch unwahrscheinlicher, Albtraum". Aber auch Masern oder multiresistente Bakterien kommen in Frage - die Liste ist lang.
Eine immer vernetztere Welt und der Klimawandel führen dazu, dass Infektionskrankheiten sich immer besser ausbreiten. Intensive Tierhaltung und das Vordringen des Menschen in den Lebensraum von Wildtieren begünstigen außerdem Zoonosen, also Erkrankungen, die zwischen Mensch und Tier übertragen werden.
Von einer neuen Pandemie könnte auch Deutschland wieder betroffen sein. Anlass für viele, sich zu fragen: Hat man hierzulande die richtigen Lehren aus der Corona-Pandemie gezogen? Und ist man jetzt besser vorbereitet?
Drehpunkt: die Krankenhäuser
Bilder aus der Pandemie, die sich eingebrannt haben: volle Intensivstationen und überlastetes Krankenhauspersonal. Auch in einer nächsten Pandemie wird ein Dreh- und Angelpunkt sein, wie gut Deutschlands Kliniken für den Ansturm aufgestellt sind. "Eine Versorgung in Gesundheitskrisen funktioniert nur dann gut, wenn die Krankenhäuser auch im Normalzustand gut funktionieren", sagt Christian Karagiannidis, der als Intensivmediziner an der Lungenklinik Köln-Merheim arbeitet. "Das haben wir momentan nicht in der Form, in der wir es bräuchten."
Eine Reserve an freien Betten für unvorhergesehene Ereignisse gibt es nicht. Von den knapp 1700 Krankenhäusern, die es in Deutschland gibt, hätten während der Corona-Pandemie noch nicht einmal 500 Kliniken die Hauptlast der Corona-Patienten getragen. "Der Rest hat nur wenig an der Versorgung teilgenommen".
Damit die Arbeit in Zukunft auf mehr Schultern verteilt wird, versucht das Bundesministerium für Gesundheit nun einen Umbau der Krankenhauslandschaft. Als Teil der Regierungskommission ist auch Christian Karagiannidis an der Krankenhausreform beteiligt. Für ihn ist entscheidend, dass der Mittelbau ausgebaut wird. Also mehr Kliniken, die mindestens zehn Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit und "Specials" wie einen Herzkatheter und Hubschrauberlandeplatz haben. Bloß: Dafür müssen kleine Standorte zusammengelegt werden, heißt konkret: zumachen. "Damit tun sich die Leute unfassbar schwer", sagt Karagiannidis.
Ein weiteres Problem: Während das Pflegepersonal am Anfang der Corona-Pandemie beklatscht wurde, gerät es immer mehr in routinierte Vergessenheit – und wird älter. In Nordrhein-Westfalen (NRW), Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland, ist laut Pflegekammer NRW jede dritte Pflegekraft über 55 Jahre alt und geht bald in Rente. Nur 15 Prozent sind jünger als 30. Laut Pflegereport der Krankenkasse DAK fehlt der Nachwuchs, um die altersbedingten Leerstellen in den kommenden Jahren zu ersetzen. Ein "Kipppunkt der Pflege" droht.
Anlass zur Hoffnung gibt die Tatsache, dass Krankenhäuser während der Pandemie gelernt hätten, miteinander zu arbeiten und nicht in Konkurrenz zueinander, sagt Christian Karagiannidis. Außerdem: Das Bewusstsein, dass eine Bevorratung von Masken und Arzneimitteln eine gute Idee ist – das sei geblieben.
Eine Erkenntnis: auf Vorrat setzen
Für Krankenhäuser mag die Bevorratung auch funktionieren, auf nationaler Ebene zeichnet sich an dieser Stelle jedoch ein Umsetzungs-Problem ab: Zu Beginn der Corona-Pandemie, im Juni 2020, hatte die Bundesregierung den Aufbau der "Nationalen Reserve Gesundheitsschutz" beschlossen. Schutzausrüstung und Medizinprodukte, die während der Pandemie beschafft wurden, sollten zentral eingelagert werden. In weiteren Phasen sollte die Reserve mit in Deutschland produzierten Medikamenten und Medizinprodukten aufgestockt werden. So wollte man in Zukunft Lieferengpässe vermeiden. Vier Jahre später steht das Projekt immer noch am Anfang. Abgelaufene Masken werden vernichtet.
"Das könnte uns beim nächsten Mal wieder auf die Füße fallen", sagt Philipp Wiesener, der bei der Hilfsorganisation Deutsches Rotes Kreuz für nationales Krisenmanagement und gesundheitlichen Bevölkerungsschutz zuständig ist.
Auf der Habenseite: Während der Corona-Pandemie habe man gelernt, innerhalb kurzer Zeit Impfzentren hochzuziehen und große Bevölkerungsgruppen zu impfen, sagt Wiesener. Eine Reserve, auf die man auch beim nächsten Mal zurückgreifen kann.
Ein Anknüpfungspunkt: die Impfstoffe
Dass die Corona-Pandemie nicht noch größeren Schaden angerichtet hat, liegt auch an der schnellen Verfügbarkeit effektiver Impfstoffe. Ein günstiger Zufall: Impfstoffe standen damals nicht im Fokus der Forschung. Die mRNA-Technologie sollte eigentlich helfen, Krebs zu heilen. "Es war tatsächlich Glück, dass die Entwicklung der mRNA-Technologie so weit vorangeschritten war", sagt Emanuel Wyler. Und ergänzt optimistisch: "Es ist nicht so, dass wir dieses Glück beim nächsten Mal nicht auch haben."
Während der Pandemie haben sich mRNA-Impfstoffe als flexibles Instrument bewährt. Sie funktionieren jedoch nur, wenn man weiß, gegen welche Strukturen des Erregers sie sich richten sollen. Käme als nächstes SARS-CoV-3, wären die Menschen gut vorbereitet. Bei Pocken zum Beispiel wäre das aber gar nicht so klar, sagt Molekularbiologe Wyler. Hinzu kommt, dass die Menschheit gegen diese Erkrankung kaum noch Impfschutz hat. Ein "kleiner Albtraum" eben.
Die Frage ist aber auch, ob die Deutschen sich beim nächsten Mal überhaupt impfen lassen.
Die Gesellschaft ist skeptischer geworden
Denn kurz bevor die WHO den Corona-Notstand im Mai 2023 aufhob, waren in Deutschland mehr als 20 Prozent der Bevölkerung ohne Impfung. Und nicht wenigen fehlt inzwischen das Vertrauen in zukünftige Maßnahmen. In einer Umfrage, die ein Team um die Psychologin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt Ende 2022 durchführte, gab ein Drittel der befragten Deutschen an, dass sie bei einer nächsten Pandemie nicht mehr bei den Schutzmaßnahmen mitmachen würden. Ebenfalls würde fast ein Drittel der Befragten die Politiker gerne dafür maßregeln, wie sie mit der Pandemie umgegangen sind.
Die Pandemie hat zahlreiche Missstände offengelegt: Menschen mit geringerem Einkommen und Bildungsgrad waren systematisch benachteiligt. Digitalisierung in Gesundheitssystem und Schulen ist überfällig. Viele Kinder und Jugendliche leiden noch heute unter den Schulschließungen. Zahlreiche Wissenschaftler kritisieren eine fehlende systematische Datenerhebung zur Bewertung der Maßnahmen.
Intensivmediziner haben gelernt, in Szenarien zu denken. Für Christian Karagiannidis ist daher klar, was nun an erster Stelle stehen müsste: "Wir müssten einmal durchspielen, was wäre, wenn jetzt die nächste Pandemie ausbricht. Und gucken: Sind wir gut vorbereitet?" Angefangen bei: Der Bundestag tritt zusammen. Zu: Wer sagt, dass es eine Krise ist? Wie reagieren wir darauf? Was passiert mit den Schulen? Haben wir die wesentlichen Daten in Echtzeit zur Verfügung? "Eigentlich bräuchte es ein Gesamt-Szenario, damit man sieht: Wo sind die Schwachstellen?"
Bislang aber ist das nicht passiert.
Anmerkung der Redaktion: Die vorherige Version dieses Artikels wurde geändert, um eine sachliche Ungenauigkeit zu beseitigen.