Wie ich als Britin in Bonn den Brexit erlebe
27. Juni 2016Es gibt Tage, an die sich jeder auch Jahre später genau erinnert. Wo waren Sie zum Beispiel am 11. September 2001? Wo waren Sie, als David Bowie gestorben ist? Und: Wo waren Sie, als 52 Prozent der Briten ihr Land ins Unglück stürzten?
Als ich am 23. Juni ins Bett ging, war eine Sache klar: Egal, ob Großbritannien für oder gegen einen Verbleib in der EU stimmt - wenn ich aufwache, würde die Welt eine andere sein. Das Gefühl, als ich mich im Bett hin und her wälzte, war fast wie das am Heiligabend. Diese verquere Logik: "Je eher ich ins Bett gehe, desto eher kann ich Geschenke auspacken."
Eilmeldung folgt Eilmeldung
Nur dieses Mal war ich wie gelähmt vor Angst, dass ein böse Überraschung auf mich wartet, wenn ich aufwache. Genau so ist es dann auch passiert. Morgens um sechs Uhr stand das Ergebnis in der Heimat beinahe fest. Nach einem Kniff in den Arm, zahlreichen Bechern Kaffee und einer eiskalten Dusche zeichnete sich ab, dass die Nachrichten nicht so waren, wie ich - und 48 Prozent der Wähler - sie sich so verzweifelt gewünscht hatten. Stattdessen blieb das ungute Gefühl, dass ich bereits in den drei Tagen zuvor im Bauch hatte.
"Remain", wollte ich mir sagen, und mich auf den Weg zur Bäckerei machen, um frische Croissants und warme Brezeln mit in die Redaktion zum Frühstück mitzubringen. Dann kam die Eilmeldung: "Großbritannien stimmt für einen Ausstieg aus der EU" - gefolgt von freundlichen Erinnerungen von ungefähr jeder anderen Nachrichtenapp unter der Sonne. Nur, falls man es beim ersten Mal nicht mitbekommen hatte. Keine Croissants. Keine Bretzeln. Nur ein fliegendes Smartphone und feuchte Wimperntusche.
Die Deutschen sagen "Sorry"
Erst als ich in die Bonner U-Bahn stieg, wurde mir bewusst, dass ich gar nicht wie sonst mit dem Fahrrad fuhr. Aber mein Daumen klebte praktisch auf dem Handydisplay und scrollte ohne Pause durch die Nachrichten. Als ich in der vollen Bahn stand, hörte ich ein leises "Scheiße" hinter mir. Es kam von einem kräftigen deutschen Mann in den Fünfzigern. Er nickte in Richtung meines Handys und sagte "Entschuldigung", mit einem unbeholfenen Lächeln. Meine Augen wurden feucht - nicht zum ersten Mal an dem Tag, und definitiv nicht zum letzten Mal.
Wenn man in einer internationalen Nachrichtenredaktion arbeitet, hat man es öfter mit Katastrophen zu tun: Bomben, Terrorangriffe, Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen. Aber so eine düstere Stimmung wie an jenem Tag habe ich dort noch nie erlebt. Es war beinahe so, als ob jemand gestorben wäre.
Schockstarre bei Briten weltweit
Als ich um 7.20 Uhr ankam, erinnerte ich mich selbst daran, dass ich meine Arbeit erledigen musste. Aber mein britischer Humor war am Ende: Kein Gif, kein Wortspiel, nicht mal eine Version von ABBAs "Knowing Me, Knowing EU" konnte die Situation irgendwie besser machen. Als ich am Empfang vorbei lief, konnte ich ein "Morgen" herausbringen. Der Sicherheitsmann entgegnete "Sorry, Frau Brady. Es tut mir leid." Deutsche, Amerikaner, Kollegen, die ich mit Namen kannte, Kollegen, die ich nur vom Sehen kannte - alle, denen ich an dem Tag begegnete, grüßten mich mit dem gleichen bedauernden Lächeln.
Dann fingen die Anrufe an, die Textnachrichten, in denen jeder seinen Schock und die verschiedenen Stufen von Übelkeit und Trauer mitteilte. Nachrichten von Freunden, die sich um mich sorgten, kamen aus allen Teilen der Welt.
Die Falschen sagen "Sorry"
In jeder Nachricht stand das gleiche Wort: "Sorry". Aber wofür? Ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte. Ich sollte für die 52 Prozent der Briten um Entschuldigung bitten, die gegen die EU gestimmt haben. Die dafür gestimmt haben, sich von der Union zu lösen, die seit 43 Jahren wohl das größte Friedensprojekt in der Geschichte ist.
Stattdessen hat das "kleine Britannien" den Weg bereitet für Europas Rechtspopulisten. Sie feierten die britische Entscheidung, allen voran der französische Front National, der ein ähnliches Referendum fordert - einen "Frexit", wenn man so will. Für alle Briten, die verteilt in der EU leben, sind die Folgen noch nicht absehbar. Im Moment finde ich noch Trost in den Heiratsanträgen, die mir Freunde am Freitag gemacht haben - "nur für den Fall des Falles". Aufgepasst, Tinder: Jetzt kommt Nigel "Amor" Farage.
Das Referendum - Camerons Verhängnis
In der Heimat wurden die Konsequenzen dagegen deutlicher: Unser Premierminister David Cameron ist tatsächlich zurückgetreten. Damit macht er einer Regierung der Ultra-Tories den Weg frei. Sein Versprechen eines Brexit-Referendums vor der letzten Wahl ist am Ende zu seinem Verhängnis geworden.
Einstürzende Börsenkurse, Arbeitsplatzverluste, neu zu verhandelnde Handelsregeln - das ist bloß der Anfang. Nicht nur, dass das Vereinigte Königreich selbstsüchtig ein Loch in die EU reißt, auch die innerbritannische Union steht auf dem Spiel. Boris, Nigel, Michael - die drei weniger-als-draufgängerischen Musketiere der "Leave"-Kampagne - erklärten am Freitag, dass das Ergebnis des Referendums eine "klare Botschaft" sei, dass die britischen Wähler die EU verlassen wollten.
Nicht länger ein Vereinigtes Königreich
Ich würde niemals das demokratische Wahlrecht jedes Einzelnen infrage stellen, aber ein Sieg mit 52 Prozent ist keine "klare Botschaft". Es ist eine Botschaft, dass fast die Hälfte von uns in der EU bleiben will. Es ist eine Botschaft, die nicht nur uns, sondern auch dem Rest der Welt bestätigt, was viele von uns schon länger vermutet und lange befürchtet hatten: Wir sind nicht länger das Vereinigte Königreich von Großbritannien, sondern das gespaltene.
Es liegen ungewisse Tage vor Großbritannien, nicht zuletzt wegen eines möglichen "schottischen Unabhängigkeitsreferendums 2.0". Die Kluft führt nicht nur entlang der geografischen Grenzen. Inmitten des politischen Durcheinanders, das das EU-Referendum ist, traten ganze Gruppen von Briten gegeneinander an. Am schwersten wiegt vielleicht die unüberwindbare Enttäuschung, deren Folgen viele ältere Briten auf die jungen abgewälzt haben.
So müssen wir, die jüngeren Generationen, die Scherben aufsammeln und wieder zusammenfügen. Wir mögen aus der EU austreten, aber das bedeutet nicht, dass wir unsere Prinzipien vergessen. Wenn man am Boden liegt, ist es Zeit, aufzustehen, sich wieder herzurichten und weiterzumachen. Auch mit gebrochenem Herzen müssen wir sicherstellen, dass die Intoleranz und die Stammtischparolen, die die Kampagnen anheizten, nicht zur Norm werden. In der Zwischenzeit warten wir ab - und sehen wenigstens etwas Gutes: Vielleicht haben wir bald wieder einen wunderschönen blauen Ausweis.