Flüchtlinge in der Nachkriegszeit: Gelungene Integration?
15. September 2015Es ist im Spätsommer 1945, als der zehnjährige Werner Krokowski mit seiner Mutter und Großmutter, den Schwestern, einer Tante und deren drei Kindern das westdeutsche Städtchen Helmstedt erreicht. Die Frauen und Kinder sind zerlumpt, hungrig und durstig, haben sich auf dem Weg von Beeren und Fallobst ernährt und russische Grenzsoldaten mit Brennspiritus bestochen. Eine wochenlange Odyssee durch Osteuropa liegt hinter ihnen, in überfüllten Zügen und zu Fuß über die "grüne Grenze" zwischen der russischen und der britischen Besatzungszone. Hier in Helmstedt wollen sie bleiben. Erst mal.
Europa 1945: Ein Kontinent in Bewegung
Werner Krokowski und seine Familie gehören zu den gut 12 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in das zerstörte Deutschland kommen. Geboren und aufgewachsen ist er im ostpreußischen Neu-Schiemanen, das heute zu Polen gehört. Schon während des Krieges hatten die alliierten Mächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich Pläne für eine Nachkriegsordnung Europas beschlossen. Gut zwei Monate nach der Kapitulation des verbrecherischen NS-Regimes treffen sich die Siegermächte erneut, um auf der Konferenz von Potsdam (17.7. bis 2.8.1945) die zukünftigen Staatsgrenzen endgültig festzulegen.
Das Ergebnis löst eine europäische Völkerwanderung aus: Die Sowjetunion, die die größten Kriegsverluste erlitten hat, erhält Gebiete im Osten Polens, Polen wiederum werden ehemals deutsche Regionen zugeschlagen, wie Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien. Die Tschechoslowakei bekommt Teile Böhmens. Das trifft - nicht nur, aber vor allem - die Deutschen, die den Krieg verursacht haben. Millionen Menschen müssen ihre Heimat verlassen und woanders neu anfangen. Wie die Krokowskis, die nun in Helmstedt in einer kleinen Wohnung bei Verwandten hausen, elf Menschen auf engstem Raum. Auch Werners lange vermisster Vater hat es hierher geschafft: mit dem Fahrrad aus Ostpreußen.
Deutschland in Trümmern, Wohnraum ist knapp
In Helmstedt kann Werners Tante endlich mit dem kleinen Cousin zum Arzt gehen. Der Siebenjährige hat sich wochenlang das Bein wund gekratzt: "Als die Russen nach Ostpreußen kamen, wurde auf meinen Onkel geschossen, der meinen Cousin auf dem Arm hatte“, erzählt Werner Krokowski. "Beide sind gefallen. Mein Onkel war tot und mein Cousin schrie, stand aber wieder auf. In den Wirren des Krieges hat keiner mitgekriegt, dass er einen Schuss abbekommen hatte. Wenn uns meine Tante besuchte, brachte sie die Kugel im Portemonnaie mit".
Nach zwei Monaten in einem Durchgangslager in Salzgitter ziehen die Krokowskis in eine Baracke aus Betonplatten um. Noch bis in die 60er Jahre leben viele Flüchtlinge und Vertriebene in Lagern, Behelfsbaracken oder "Nissenhütten" aus Wellblech, die im Winter eiskalt und im Sommer glühend heiß werden. Denn Deutschland liegt in Trümmern, viele Städte sind durch Bombenangriffe zerstört, Wohnraum ist rar. Vielerorts werden die Neuankömmlinge einfach bei Einheimischen einquartiert, Streit ist an der Tagesordnung. Obwohl alle dieselbe Sprache sprechen, werden die Neuankömmlinge oft argwöhnisch beäugt und mit Schimpfnamen wie "Polacken" oder "Schmarotzer" belegt, Lager als "Neu-Polen" oder "Knoblauch-Siedlung" geschmäht.
Anpassung in der Fremde: ein Weg zum Erfolg
Die Flüchtlinge und Vertriebenen bleiben in den Lagern und Wohnsiedlungen, die mit der Zeit die Behelfsunterkünfte ersetzen, meist lange unter sich. Dass die Wohnungslosen vergünstigte Kredite zum Hausbau erhalten, erregt Neid. Wo protestantische Flüchtlinge in katholischen Orten einquartiert werden (und umgekehrt), bleiben die Konfessionen noch Jahrzehnte lang getrennt. Auf Schulhöfen werden Linien gezogen, die die Kinder nicht überschreiten dürfen.
Erst allmählich mischen sich Zuwanderer und Einheimische. Werner Krokowski, der im Januar 1946 elf Jahre alt wird, fällt es leicht, Kontakte zu knüpfen. Er geht wieder in die Schule, sitzt dort neben Kindern aus Schlesien oder Pommern genauso wie neben Einheimischen. Sticheleien von Mitschülern, die seinen ostpreußischen Dialekt nachäffen, kontert er, indem er ihre gewählte Aussprache parodiert – und selbst schnell Hochdeutsch lernt.
Ganz anders die Erwachsenen. Ihnen fällt die Eingewöhnung schwer. "Meine Eltern haben nur von Ostpreußen gesprochen. Die wollten immer wieder zurück." Während viele ältere Menschen davon träumen, in die verlorene Heimat zurück zu kehren und sich in Vertriebenenverbänden und Landsmannschaften dafür einsetzen, arrangieren sich die Jüngeren mit der Realität. Und mischen sich immer mehr unter die Einheimischen.
"Ein wichtiger Integrationsfaktor war, wenn man in Vereine ging, also zum Beispiel im Kirchenchor mitsang", sagt die Historikerin Marita Krauss, die sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt. "Oder im Sportverein, das ist ja bis heute so: Wenn jemand Tore schießt, dann kann er kommen, woher er mag, und ist gern gesehen."
Arbeit, Hochzeit, Hausbau: Ankunft im Wirtschaftswunder
Beim Wiederaufbau der Bundesrepublik in den 50er Jahren werden alle Arbeitskräfte gebraucht. Werner Krokowski findet eine Lehrstelle als Maschinenschlosser in der Eisenerz-Hütte, 1953 besteht er die Gesellenprüfung. Aber noch immer teilt er mit seinem Bruder, der 1946 aus der Kriegsgefangenschaft gekommen ist, ein Bett - bis der Bruder heiratet. Es geht schnell aufwärts: er kauft ein Motorrad, dann ein Auto, 1962 heiratet er und zieht in die erste eigene Wohnung. Zwei Töchter werden geboren, ein Haus gebaut. Werner Krokowski ist im Wirtschaftswunderland Deutschland angekommen. Es ist seine Heimat geworden.
Werner Krokowskis Geschichte zeigt, was in Punkto Integration wichtig ist – und wie die Eingliederung von Zuwanderern auch heute funktionieren könnte. "Aus allen Einwanderungsländern, die mit der Aufnahme von Menschen zu tun hatten, kann man lernen: Sie sollten möglichst schnell auch die Möglichkeit haben, zu arbeiten", meint die Historikerin Marita Krauss. Auch den Flüchtlingen aus Syrien oder Afrika könnte das helfen. "Hier könnte das zumindest ein temporäres Bleiberecht bedeuten, mit einer Sicherheit, einen gewissen Zeitraum bleiben zu können, damit Menschen ihre Fähigkeiten an einem Arbeitsplatz zeigen können."
Zwangsintegration in der DDR
Während in der Bundesrepublik Flüchtlinge und Vertriebene wie Werner Krokowski zu den Motoren des Wirtschaftswunders gehören, werden sie in der kommunistischen DDR als Arbeitskräfte in der Planwirtschaft gebraucht. Aber anders als im Westen, wo Vertriebenenverbände ihre Interessen vertreten und Traditionen pflegen, werden sie in der DDR quasi zwangsintegriert. Schon begrifflich: Man bezeichnet sie als "Neubürger" oder "Umsiedler", jegliche gemeinschaftliche Organisation ist verboten.
Ein Fehler, meint Marita Krauss: "Wir wissen heute, dass es einfacher ist, wenn man mit der eigenen Kultur in eine neue Gesellschaft hineinwachsen kann. Die vielen Communities, die in den klassischen Einwandergesellschaften entstanden sind, bilden einen Schutzraum."
Flüchtlinge als Chance für die Bundesrepublik
Menschenwürdiges Wohnen, Anpassungsbereitschaft, eine Arbeit und gesellschaftliche Akzeptanz – das sind die wichtigsten Faktoren für eine gelungene Integration von Zuwanderern, damals wie heute. Anders als die Flüchtlinge und Vertriebenen der Nachkriegszeit, die – bei allen Schwierigkeiten – zumindest die gleiche Sprache sprachen und aus demselben Kulturkreis kamen wie die Einheimischen, haben es Zuwanderer heute meist ungleich schwerer. Aber auch sie bringen Fähigkeiten und Potentiale mit, die es zu finden und zu fördern lohnt. Denn Deutschland schrumpft – und braucht qualifizierte und lernwillige Zuwanderer.
Wenn Werner Krokowski heute in Radio oder Fernsehen die Bilder der Flüchtlinge sieht, kommen ihm Erinnerungen. "Glauben Sie nicht, dass wir gerne aufgenommen worden sind", sagt er dann. "Wenn wir nicht die Lager gehabt hätten, wüsste ich nicht, wer hier Flüchtlinge aufgenommen hätte. Gottseidank, dass wir die Lager hatten." Trotz aller Entbehrungen war die Schicksalsgemeinschaft der Flüchtlinge für Werner Krokowski der Schutzraum, aus dessen Sicherheit der Start in ein neues Leben gelang.
Zum Weiterlesen:
Burk, Henning u.a.: Fremde Heimat. Das Schicksal der Vertriebenen nach 1945, Rowohlt Verlag 2011
Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, Pantheon Verlag 2008