Wie kann die NATO die Ukraine schützen?
13. Juli 2023Vor, während und auch jetzt, nach dem NATO-Gipfel, wird kontrovers diskutiert, wie die Sicherheit der Ukraine dauerhaft gewährleistet werden kann. Von bilateralen Vereinbarungen bis hin zu einer vollwertigen NATO-Mitgliedschaft sind verschiedene Wege denkbar, um Russland von weiteren Attacken auf das Land abzuhalten. DW hat sich einige Szenarios angeschaut.
Langfristige Sicherheitsgaratien
Auf dem NATO-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli haben die G7-Staaten zugesagt, den Weg für langfristige Sicherheitsgarantien sowie neue Waffenzusagen für die Ukraine freizumachen. Diese "Garantien" sind nicht mit dem sogenannten Bündnisfall in Artikel 5 des NATO-Vertrags zu vergleichen, erläutert Politikwissenschaftlerin Aylin Matlé, Research Fellow am Zentrum Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Der Begriff steht für das Versprechen einer gemeinsamen Reaktion der NATO-Partner auf Angriffe.
Stattdessen, so Matlé, handle es sich um wichtige Maßnahmen, die die Ukraine als souveränen Staat stärken sollen, etwa die Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten, die Unterstützung der ukrainischen Verteidigungsindustrie, die Ausbildung von Soldaten oder auch ganz allgemein die wirtschaftliche Unterstützung. Auch zuvor hat der Westen die Ukraine zwar schon im Krieg gegen Russland unterstützt, einiges sei an den jüngsten Vereinbarungen jedoch neu. "Der politische Westen signalisiert Russland, dass er gewillt ist, die Ukraine nicht nur jetzt, sondern auf mittlere und lange Sicht zu unterstützen," erklärt Matlé.
Dieses Signal sei wichtig. Denn eine langfristige Unterstützung sei genau das Gegenteil, worauf der russische Präsident Wladimir Putin hoffe: nämlich ein Einknicken der Staaten, die die Ukraine unterstützen.
Benjamin Tallis, ebenfalls Sicherheitsexperte für die DGAP, merkt allerdings an: "Das ist nicht die Art von Sicherheitsgarantien, die die ukrainische Bevölkerung beruhigen wird. Sie haben das Budapester Memorandum von 1994 im Kopf, als die Ukraine ihre Atomwaffen im Gegenzug für Sicherheitsgarantien des Vereinigten Königreichs, der USA und Russlands aufgab. Und offensichtlich war das nicht genug, um einen russischen Angriff abzuschrecken."
Modell Israel
Das Fehlen von Atomwaffen auf ukrainischer Seite ist auch der entscheidende Unterschied zu Israel, mit dem das osteuropäische Land dieser Tage oft verglichen wird. Das sogenannte Israel-Modell - Israel ist ebenfalls nicht Teil der NATO, wird aber vor allem von den USA tatkräftig in Sachen Sicherheit und Rüstung unterstützt - funktioniere für das Land ja vor allem deshalb, weil es anders als die Nachbarstaaten über Atomwaffen verfüge, erklärt Tallis.
NATO-Ukraine-Rat
Als positives Ergebnis des NATO-Gipfels sehen sowohl Tallis als auch Matlé den neuen NATO-Ukraine-Rat an. Dieses Gremium ermögliche Diskussionen auf Augenhöhe zwischen Kiew und den 31 Staats- und Regierungschefs der Allianz, so Matlé
NATO-Mitgliedschaft
Ein Beitritt in das Verteidigungsbündnis wäre für die Ukraine die stärkste Garantie, um vor Russland geschützt zu sein. Wegen Artikel 5 des NATO-Vertrags würde Russlands Angriff auf das Land als Angriff gegen alle Mitgliedsstaaten der Allianz betrachtet und die NATO wäre verpflichtet, Beistand zu leisten.
Doch genau deshalb ist eine vollwertige NATO-Mitgliedschaft der Ukraine erst denkbar, wenn Russlands Angriffskrieg in dem Land vorbei ist. Zwar findet in der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels eine Beitrittsperspektive der Ukraine durchaus Erwähnung. Doch die Formulierungen sind vage, einen konkreten Fahrplan gibt es nicht.
Weitere Szenarios möglich
Benjamin Tallis ist überzeugt: "Die Unterstützung der Ukraine ist keine Wohltätigkeit, sondern eine Investition in unsere sichere Zukunft in Europa. Wir müssen sicherzustellen, dass wir ein europäisches Sicherheitsmodell haben, das funktioniert." Die Sicherheitsarrangements mit den G7-Staaten hält er für unzureichend, einen baldigen NATO-Beitritt für unwahrscheinlich, also schlägt er eine Interimslösung vor.
"Ein wirkungsvolles Sicherheitsangebot muss im Wesentlichen drei Dinge beinhalten. Es muss erstens die Ukraine schützen, um Russland von weiteren Angriffen abzuhalten. Es muss zweitens mittelfristig eine Perspektive für eine NATO-Mitgliedschaft ebnen. Und es muss drittens die europäische Sicherheit auf breiterer Basis stärken. Schließlich muss es auch im Interesse der Staaten liegen, die die Garantien oder das Angebot bereitstellen."
Konkret könne das unter anderem die Ausweitung der Joint Expeditionary Force (JEF) bedeuten. Die multinationale Expeditionsgruppe existiert seit 2014 und wird von Großbritannien als sogenannte Framework Nation angeführt. Bei einer Erweiterung etwa um die Ukraine, Polen und Frankreich, so Tallis, "würde die JEF zu einer ziemlich fiesen Kampfmaschine, die Russland abschrecken kann".