Wie komplizierte Kriege Helfer lähmen
20. Mai 2019DW: Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) hilft seit 150 Jahren in Kriegsgebieten. Was macht die Arbeit des IKRK heute besonders schwer?
Maurer: Wir sind immer öfter mit Kriegen konfrontiert, in denen es unglaublich viele Akteure gibt. Denken Sie an Syrien. Wir haben es heute nicht mehr mit zwei oder drei Konfliktparteien zu tun, sondern mit 50 oder 60! Die Statistiken zeigen klar, dass Konflikte mit über zehn Konfliktparteien dramatisch zugenommen haben. Zweitens spielen sich Konflikte nicht mehr irgendwo in der Isolation ab, sondern sie werden gefördert durch Mächte in der Region und durch globale Mächte.
Wir sehen das deutlich, wenn das IKRK zum Beispiel über Zugang zu Gefängnissen verhandelt. Dann können wir das nicht nur mit den zahlreichen Parteien vor Ort machen, sondern wir müssen zunehmend auch in der Region und global diplomatisch mobilisieren.
Die Kombination dieser beiden Trends führt uns zu besonders schwierigen, fast schon unlösbaren Situationen. Lassen sie mich in diesem Zusammenhang auf eine Zahl hinweisen, die mich immer wieder erstaunt: 80 Prozent der durch Gewalt vertriebenen Menschen auf der Welt kommen aus weniger als 20 Konflikten.
Klassischerweise hat das IKRK in Notsituationen Zelte geliefert, Medizin, Nahrung, Decken. Ist das immer noch so, oder haben sich die Anforderungen an humanitäre Hilfe geändert?
Bisweilen ist das immer noch so. Wenn wir es mit Naturkatastrophen zu tun haben, so wie erst kürzlich nach den verheerenden Hurrikanen in Mosambik, dann ist Nothilfe mit Basishilfsgütern auch heute noch von zentraler Bedeutung. Wir haben auch Situationen in Kriegen, wo wir als erstes humanitäre Nothilfe leisten müssen - und das ist im wesentlichen Überlebenshilfe.
Je länger wir aber in diesen Konflikten tätig sind und je länger Kriege dauern, desto komplexer werden die Probleme. Je mehr Kriegsereignisse sich in urbanen Zentren abspielen, desto mehr müssen wir auf anderer Ebene tätig sein. Wir müssen Wassersysteme wieder zum Funktionieren bringen. Wir müssen Gesundheitssysteme wieder zum Funktionieren bringen. Wir müssen neue Bedürfnisse der Bevölkerung abdecken, zum Beispiel die Trauma-Bewältigung.
Es gibt eine Differenzierung dessen, was humanitäre Bedürfnisse sind. Darauf müssen wir reagieren und humanitäre Aktionen anpassen.
Sie haben gerade davon gesprochen, dass Sie auch die Instandsetzung von Infrastruktur zu den Aufgaben des IKRK zählen, etwa die Strom-, Wasser- und Gesundheitsversorgung. Solche Arbeiten werden aber immer wieder durch Sanktionsregime erschwert, zum Beispiel in Syrien. Wie geht das Rote Kreuz mit solchen Sanktionsregimen um?
Wir haben schon seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es ist, dass Sanktionsregime die Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung berücksichtigen. Als neutrale Organisation äußern wir uns nicht zur Frage der politischen Legitimität von Sanktionen.
Wir äußern uns aber schon zur Frage der humanitären Auswirkungen auf Bevölkerungen. Und wir engagieren uns mit Ländern und mit internationalen Organisationen, die Sanktionen verhängen, um diese humanitären Auswirkungen möglichst in Grenzen zu halten. Auch, um Regime zu finden, die Ausnahmen für humanitäre Aktionen ermöglichen.
Es scheint, als gäbe es immer mehr Überschneidung zwischen der Arbeit des IKRK und der Arbeit anderer Hilfsorganisationen, ganz egal, ob staatlich oder privat. Wie grenzen Sie sich da ab?
Wir sind und bleiben eine humanitäre Organisation. Das heißt: Wir wollen neutral, unabhängig und unparteilich in Konflikten sein. Wir reden mit allen Seiten. Wir verhandeln neutrale humanitäre Räume, um Bevölkerungen zu schützen und ihnen zu helfen. Das ist die Essenz von dem, was wir machen.
Wenn ich allerdings sehe, wie wir immer länger in immer komplexeren Kriegssituationen tätig sind, kommt eben die zweite Dimension dazu: unser Wille, auch über das Humanitäre hinaus Verbindungen zu schaffen zu anderen Akteuren. Damit Räume, in denen wir als Frontlinien-Organisation tätig sind, auch für andere Akteure offen werden.
In dem Sinne suche ich eher nach Ergänzungen als nach eigentlicher Zusammenarbeit. Für mich ist klar, dass entwicklungspolitische Akteure und Menschenrechtsakteure eine viel transformatorischere Aufgabe in der Gesellschaft haben als humanitäre Akteure.
Unsere Fähigkeit, in schwierigsten Situationen vor Ort zu sein, hängt eben vom Konsens ab. Und da kommen wir nicht darum herum, uns zu unterscheiden. Aber zusammen, in größerer Komplementarität, können wir auch größere Wirkung erzielen.
Peter Maurer ist Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf