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Ironman Hamburg: Wie man auf Unfälle reagiert

6. Juni 2023

Seit dem Todesfall bei der Ironman-EM in Hamburg wird vor allem über die Sicherheit diskutiert. Doch auch die psychischen Folgen für die Teilnehmenden können gravierend sein.

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Beim Ironman Hamburg passiert ein Triathlet mit dem Rennrad die auf dem Asphalt markierte Stelle, an der zuvor ein Motorradfahrer ums Leben kam.
Ein Triathlet passiert mit dem Rennrad die Stelle, an der zuvor ein Motorradfahrer ums Leben kamBild: Georg Wendt/dpa/picture alliance

"Ich musste die Unfallstelle zweimal passieren", schreibt ein Teilnehmer der Ironman-Europameisterschaft in Hamburg in einem Internetforum. "Erst im Ziel hat man mir mitgeteilt, dass der Unfall tödlich endete." Er sei schon während des Rennens "vom Schlimmsten" ausgegangen.

Bei einem Frontalzusammenstoß zwischen einem TV-Begleitmotorrad und einem Amateur-Triathleten auf dem Rennrad war der Motorradfahrer ums Leben gekommen und der Sportler schwer verletzt worden. Seitdem wird vor allem über mangelnde Sicherheitsvorkehrungen diskutiert: zu enger Kurs mit Gegenverkehr, zu viele Motorräder auf der Strecke.

Über die psychischen Folgen für die rund 2000 Startenden, von denen viele - wie der erwähnte Teilnehmer - ihre Räder um die Unfallstelle tragen mussten, redet kaum jemand. Auch nicht in der Wissenschaft. Es gebe viele Studien über die Opfer von schweren Sportunfällen, aber man wisse "relativ wenig über die psychologische Situation von Athletinnen und Athleten, die nicht selbst Opfer sind, aber den Unfall oder die Verletzung gesehen haben", räumt Jens Kleinert ein, der Leiter des psychologischen Instituts an der Deutschen Sporthochschule in Köln.

Erfahrung hilft

Auf so einen Schockmoment reagierten Aktive sehr unterschiedlich, so Kleinert im Gespräch mit der DW: "Einige haben die Fähigkeit, sich trotz des Schocks hundertprozentig auf die eigene Leistung zu konzentrieren und dieses Ereignis aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Erfahrene Aktive bekommen das oft hin, weil sie gelernt haben, sich unglaublich zu fokussieren." Anderen gelinge das nicht. Die Gedanken an das Gesehene verfolgten sie während des Rennens. "Das kann zu Unaufmerksamkeiten führen, schlimmstenfalls sogar zu eigenen Unfällen."

Deshalb hält der Wissenschaftler aus sportpsychologischer Sicht auch wenig davon, die Startenden schon während des Wettkampfs über das ganze Ausmaß des Unfalls zu informieren. "Das löst eher eine Gefahr aus, weil sich die Sportler dann unter Umständen gedanklich intensiver mit dem Unfall beschäftigen und daher abgelenkt sind. Gerade bei hohen Geschwindigkeiten, etwa auf dem Rennrad, kann das sehr gefährlich werden."

Rennabbrüche eher selten

Als der italienische Radprofi Fabio Casartelli auf der Königsetappe der Tour de France 1995 bei einem Sturz ums Leben kam, informierte man den Tagessieger Richard Virenque auch erst nach der Zieleinfahrt. Der Franzose brach vor laufenden Kameras in Tränen aus. Auch hier hatten die Veranstalter - wie jetzt in Hamburg - die Veranstaltung weiterlaufen lassen.

Gedenkstelle für den bei der Tour de France tödlich verunglückten Fabio Casartelli
Gedenkstelle für den bei der Tour de France tödlich verunglückten Fabio CasartelliBild: picture-alliance/Augenklick/Roth

In der Geschichte der Automobilsport-Königsklasse Formel 1 gab es fünf Rennen, die wegen tödlicher Unfälle abgebrochen wurden. Vier davon wurden jedoch noch am Renntag neu gestartet. Lediglich der Große Preis von Spanien 1975 wurde nach einem Unfall des deutschen Fahrers Rolf Stommelen komplett beendet. Sein Rennwagen hatte sich überschlagen und war auf einer Tribüne gelandet. Fünf Zuschauende waren getötet, Stommelen schwer verletzt worden. Hätten die Veranstalter der Ironman-EM das Rennen nach dem schlimmen Unfall, der via Internetstream und TV-Übertragung live zu sehen war, sofort abbrechen sollen? War ihr Verhalten, den Wettkampf weiterlaufen zu lassen pietätlos?

Wo zieht man die Grenze?

"Ich würde es keiner Person zumuten, das Unentscheidbare zu entscheiden", nimmt Sportethikerin Yvonne Thorhauer, die als Professorin an der privaten "accadis Hochschule" in Bad Homburg nahe Frankfurt am Main unterrichtet, die Veranstalter in Schutz. "Allein die Grenzziehung finde ich total schwierig. Ab wann stoppt man das Rennen? Wenn jemand in Lebensgefahr schwebt und ins Krankenhaus kommt? Oder erst, wenn er stirbt?"

Die Wissenschaftlerin hat zwei deutsche Meistertitel im Kickboxen gewonnen und ist inzwischen auch als Schiedsrichterin tätig, etwa bei Weltmeisterschaften. Sie frage sich, wie sie selbst im Falle eines tödlichen Unfalls reagieren würde, sagt Thorhauer: "Ich würde bei mir auf der Kampffläche alles stoppen, würde an dem Tag auch nicht mehr richten. Ich wäre raus. Aber ich würde nicht zu unserem Verbandspräsidenten gehen und sagen: Du musst die komplette WM stoppen." Eine Weltmeisterschaft sei ein Großereignis, auf das sich die meisten Sportler ein Jahr lang vorbereitet hätten. "Wäre es eine kleine Hessen-Meisterschaft oder ein Frankfurter Turnier, würde ich den Wettkampf sofort stoppen. Solche Riesenveranstaltungen wie ein Ironman haben jedoch auch für die Sportler eine große Bedeutung."

Fingerspitzengefühl zeigen

Die Sportethikerin hält nichts davon, "alles in Regeln einzusperren. Wir trainieren uns das Fingerspitzengefühl komplett ab, wenn wir Moralkataloge erstellen". Man könne ein Großereignis auch nach einem schlimmen Unfall wie in Hamburg weiterlaufen lassen, sagt Thorhauer der DW. "Aber natürlich muss man hinterher das Geschehen gründlich aufarbeiten. Es kann nicht sein, dass das Ereignis so konzipiert ist, dass Aktive in Lebensgefahr geraten. Da trägt der Veranstalter die Verantwortung."

Und es sei auch seine Aufgabe, das schlimme Ereignis angemessen zu vermitteln. "Wenn der Internet-Stream weiterläuft und die Moderatoren von sich geben 'Was für ein schöner Tag in Hamburg!', geht das gar nicht", findet die Wissenschaftlerin. "Man kann hinterher durchaus eine Siegerehrung machen, aber dann bitte dezent. Und man erwähnt dabei auch den tragischen Unfall."

Auch mittel- und langfristige Folgen

Möglicherweise würde ein solches Fingerspitzengefühl der Veranstalter auch den Sportlerinnen und Sportlern dabei helfen, das Erlebte zu verarbeiten. "Auch hier gilt: die Persönlichkeiten sind sehr unterschiedlich", sagt Jens Kleinert von der Sporthochschule Köln. "Die einen können es besser verdrängen. Andere reflektieren sich und das sportliche Risiko in den Tagen und Wochen nach dem Zwischenfall selbst und denken: Das kann mir ja auch passieren! Vor allem ältere Athleten, die womöglich schon eine eigene Familie haben, fragen sich dann: Will ich dieses Risiko noch in Kauf nehmen?" Auf Erlebnisse wie diese könne man die Sportlerinnen und Sportler nur bedingt vorbereiten. Etwa indem man sie auf die Risiken ihrer Sportart aufmerksam mache und mit ihnen Techniken entwickle, mit Unfallsituationen umzugehen und die Konzentration im Wettkampf hochzuhalten.

Die psychischen Folgen für den Amateur-Triathleten, der bei dem Unfall in Hamburg schwer verletzt wurde, dürften deutlich gravierender ausfallen. "Irgendetwas bleibt immer zurück, und sei es nur die Erinnerung daran. Je schlimmer der Unfall war, desto stärker ist der Aufwand, den man betreiben muss, um das Ereignis zu bewältigen" erklärt Professor Kleinert. "Nach schweren Unfällen oder Verletzungen muss aus meiner Sicht sportpsychologische, manchmal sogar psychotherapeutische Hilfe angeboten werden. Fünf bis zehn Prozent der Opfer schwerer Sportunfälle zeigen depressionsartige Veränderungen, weil der so wichtige Körper als verletzlich wahrgenommen und der Sport grundsätzlich in Frage gestellt wird."

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter