Das Erfolgsgeheimnis des Marcel Kittel
13. Juli 2017Manche Reporter schreiben bereits von der "Tour de Kittel". Das ist natürlich Quatsch. Denn die Tour de France hat viele Protagonisten, dafür sorgt allein schon das Terrain. In den Anstiegen der Alpen und der nun beginnenden Pyrenäen werden andere ins Rampenlicht fahren, während Marcel Kittel nicht um den Sieg, sondern ausschließlich gegen das Zeitlimit kämpft. Mit seinen 87 Kilogramm zählt der 1,88 große Kittel zu den Schwergewichten im Peloton und wird in den kommenden Tagen stets im Gruppetto, der Schlussgruppe, zu finden sein. Doch das, was Marcel Kittel aktuell auf den Flachetappen zeigt, ist atemberaubend.
"Kittel, natürlich", titelt die größte Sportzeitung "L'Équipe" nach dessen fünftem Etappensieg. "Kittel ist nicht zu stoppen", meldet die veranstaltende ASO in einer Pressemitteilung. Und für die "FAZ" ist der Sprinter gar "Der neue Sommer-Held des deutschen Sports". Das Lob von Kommentatoren und Experten ist einhellig und für Ex-Profi Erik Zabel, den Kittel als deutschen Tour-Rekord-Etappensieger entthronte, ist Kittel "der neue Cipollini - nur schneller und hübscher". Der Vergleich mit dem italienischen Starsprinter der 90er und 00er Jahre hinkt und ist treffend zu gleich.
Kittel dominiert wie einst Cipollini - und ist doch ganz anders
Denn einerseits ist Kittel charakterlich weit entfernt vom Enfant terrible Cipollini, der mit aufbrausendem Temperament und einer gewissen Selbstverliebtheit polarisierte. Marcel Kittel wirft jedenfalls nicht wutentbrannt mit Trinkflaschen um sich oder trägt Einteiler im Stile Cäsars. Der blonde Hüne ist mit seiner freundlichen und zugleich verantwortungsvollen Art eher "der Typ, den jede Mutter gerne als Schwiegersohn hätte", wie Erik Zabel meint. Im Sprint gilt er als echter Sportsmann: Der 29-Jährige scheut anders als manche Konkurrenten gefährliche Ellenbogenduelle und bevorzugt den "sauberen Sprint" nebeneinander. Und doch hat Kittel etwas mit "Super Mario" Cipollini gemeinsam: Er dominiert die Sprints fast nach Belieben.
Ähnlich wie der Italiener zu seinen besten Zeiten ist Marcel Kittel auf den Zielgeraden der Mann, auf den sich alle Blicke richten. Doch die Art, wie beide ihre Rennen gewinnen, unterscheidet sich deutlich. Während der italienische Weltmeister von 2002 hinter seinem roten Saeco-Zug von der Spitze weg die Rennen gewann, geht Marcel Kittel neuerdings einen anderen Weg: Weil die Sprint-Finals der Tour hektischer, umkämpfter und aufgrund der Vielzahl der beteiligten Teams kaum zu kontrollieren sind, wählt Marcel Kittel den Weg von hinten. Er wartet lange hinter den anderen Sprintern und lässt sich dann von seinem Anfahrer Fabio Sabatini auf den richtigen Speed bringen, um die Konkurrenten von hinten aufzurollen.
Im Sog der anderen an die Spitze
"Er bevorzugt es, von hinten zu kommen. Er will momentan keinen Sprintzug, sondern startet aus der zweiten Reihe seinen Sprint", erklärte Quickstep-Teamchef Patrick Lefevere die Vorgehensweise Kittels. "Er weiß, dass dies auch das Risiko beinhaltet, eingebaut zu werden. Dies geschah an dem Tag, an dem Sagan ausgeschlossen wurde. Aber davon abgesehen sind wir sehr zufrieden mit der neuen Sprint-Taktik."
Die Taktik, sich im Sog der anderen von Hinterrad zu Hinterrad "springend" nach vorne zu katapultieren, scheint aktuell ein sehr probates Mittel in den bisweilen chaotischen Sprintfinals, weil Kittel so, wie er selbst sagt, vor dem eigentlichen Spurt Kraft und Nerven schonen kann. Körner sparen und die anderen im Wind schuften zu lassen ist seit jeher der simpelste und beste Trick im Radsport. Diese Taktik ist aber nicht die einzige Erklärung seines Erfolges. Kittel kann aktuell schlicht mehr Kraft auf das Pedal bringen als andere: Rund 2000 Watt soll er in einem Sprint schaffen. Und selbst wenn es, wie Experten schätzen, am Ende einer 200 Kilometer langen Etappe einen Tick weniger sein sollte - es wäre immer noch mehr als die Maximalleistung vieler Sprintgegner, von denen dem Vernehmen nach die meisten auf rund 1500 bis 1850 Watt kommen sollen. Natürlich fehlen inzwischen mit Peter Sagan (umstrittener Rennausschluss), Mark Cavendish (Sturz) und Arnaud Démare (verpasste das Zeitlimit) drei seiner schnellsten Rivalen. Doch als die noch dabei waren, gewann Kittel.
Nach der Krise nun im "Flow"-Zustand
Dabei fällt selbst die Tatsache, dass der Erfurter wegen seiner Körpergröße und Position auf dem Rad weniger aerodynamisch sprintet als beispielsweise die tief über den Lenker geduckt fahrenden Mark Cavendish oder Kittels Hauptgegner um Grün, Michael Matthews, nicht sonderlich ins Gewicht. Kittel kann sich auf seine Endschnelligkeit verlassen und genau dies gibt ihm viel Selbstbewusstsein - die vielleicht wichtigste Vorraussetzung für erfolgreiche Sprints. Ein Gefühl, das Kittel auch aus der Tatsache zieht, sich aus einer Krise zurückgekämpft zu haben: Nach je vier Tour-Etappensiegen 2013 und 2014 schwächte ihn im Folgejahr eine Viruserkrankung, die zu seiner Nicht-Berücksichtigung bei der Tour durch sein damaliges Team Giant-Alpecin und in der Folge zum Teamwechsel führte. Auf das "verlorene Jahr", wie Kittels Manager Jörg Werner sagt, folgte der Formaufbau und eine charakterliche Reifung seines Athleten. Kittel steckte die Misserfolge weg und zog daraus viel Selbstvertrauen.
"Ich bin auf dem Top-Level und dann kommt auch noch Glück dazu. Ich kann momentan von Hinterrad zu Hinterrad springen", versucht Kittel seine Dominanz bei der aktuellen Tour zu erklären und spricht von einem "Flow". Diesen Zustand führt man im Quickstep-Rennstall auch auf Kittels "Frische" zurück. Kittel sei absichtlich weniger Rennen gefahren und habe Vorbereitungs-Rundfahrten wie das Critérium du Dauphiné oder die Tour de Suisse ausgelassen, sagt Teamchef Lefevere. Stattdessen trainierte Kittel einen Monat lang in der Höhe von Colorado gezielt für die Tour. In der Summe ergeben diese Details die Dominanz des Marcel Kittel bei der Tour de France. Oder wie er es selbst ausdrückt: "Es ist momentan alles perfekt."