Wie die Nationalisten Indien verändern könnten
30. Dezember 2019Als Indien nach der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 zur größten Demokratie der Welt wurde, legten die Politiker des Lands großen Wert darauf, ein pluralistisches, säkulares System aufzubauen. Es sollte die Herrschaft einer Ethnie oder Religion über die vielen anderen in dem Vielvölkerstaat verhindern. Knapp 80 Prozent der heute rund 1,3 Milliarden Inder sind laut aktuellem Zensus Hindus, gut 14 Prozent sind Moslems, daneben leben Christen, Sikhs, Buddhisten und Angehörigern weiterer Glaubensrichtungen auf dem Subkontinent.
Über die Jahrzehnte jedoch wurde der Ruf immer lauter, dem Hinduismus eine Sonderrolle einzuräumen. Bei den Parlamentswahlen 2019 fand das seinen Widerhall im deutlichsten Sieg eines Parteibündnisses seit drei Jahrzehnten: Die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) - die "Indischen Volkspartei" von Premierminister Narendra Modi - und ihre Koalitionspartner haben seither mehr als 60 Prozent der Parlamentssitze inne.
Die BJP habe die ethnozentrischen Tendenzen in der hinduistischen Bevölkerung sehr wirksam für sich genutzt, sagt Sanjay Srivastava, Soziologe am Institut für Wirtschaftswachstum in Neu-Delhi. "Sie wird ihre Indentitätspolitik auch weiterhin in vielen Bereichen einsetzen, um zum Beispiel ihre Idee davon zu verbreiten, was 'authentisch indisch' ist."
Die starke Mehrheit im Parlament ermöglicht Premierminister Modi aber auch weitreichende Änderungen am politischen System Indiens. Und bisher deute wenig darauf hin, dass er diese Chance ungenutzt lassen werde, sagt der Historiker und Medienwissenschaftler Rakesh Batabyal von der Jawaharlal Nehru Universität in Delhi: "Nach dem deutlichen Wahlsieg 2019 sieht es mehr denn je danach aus, dass die Hindu-Nationalisten ihre Agenda durchsetzen."
Die BJP baut ihre Macht aus
Wenige Wochen nach dem Wahlsieg strich die Regierung Modi die Sonderrechte des indischen Bundesstaats Kaschmir aus der Verfassung, teilte ihn in zwei Teile und machte sie zu Unionsterritorien, die der direkten Verwaltung Delhis unterstehen. Das Gebiet ist Teil der länderübergreifenden Region Kaschmir, die nach der Unabhängigkeit vor mehr als 70 Jahren zwischen Pakistan und Indien aufgeteilt wurde und seither Zankapfel zwischen beiden Staaten ist. Kaschmir gehört zu den am stärksten militarisierten Gebieten der Welt. Nun hat die Regierung in Delhi weitere Truppen dorthin entsandt und die indisch kontrollierten Teile militärisch abgeriegelt.
Die besonderen Autonomierechte des überwiegend muslimisch bevölkerten Bundesstaates Kaschmir waren der BJP schon lange ein Dorn im Auge, seine Aufhebung eines ihrer Wahlversprechen. Mit dem überwältigenden Wahlsieg 2019 konnte die Modis Partei es einlösen.
Ein weiterer Punkt im 2019er Wahlprogramm der BJP war der Bau eines Hindu-Tempels in Ayodhya im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh. Dort hatten nationalistische Hindus 1992 eine Moschee zerstört mit der Begründung, sie sei im 16. Jahrhundert auf dem Fundament eines Hindutempels zu Ehren des Gottes Rama errichtet worden - eine unter Historikern umstrittene Darstellung.
Im November 2019 entschied das Oberste Gericht Indiens zugunsten der Regierungspläne, dass der Ram-Janmabhumi-Tempel neugebaut werden darf. 2020 sollen die Arbeiten ungeachtet des Protests der Muslime beginnen. Das Urteil passe genau in den Plan der BJP, ihre Macht zu festigen, sagt Soziologe Srivastava.
Kontroverse Pläne
Auch mit dem neuen Staatsbürgerrecht, das es allen nicht-muslimischen Immigranten aus Nachbarländern erleichtert, die indische Nationalität anzunehmen, hat die BJP ein Wahlversprechen umgesetzt. Premier Modi begründete das Gesetz damit, verfolgte Minderheiten insbesondere aus Pakistan, Afghanistan und Bangladesh schützen zu wollen. Nach der Verabschiedung in beiden Parlamentskammern sprach Modi von einem historischen Tag für "Indiens nationales Ethos von Mitgefühl und Brüderlichkeit".
Indiens Innenminister Amit Shah versicherte: "Dieses Gesetz betrifft ausschließlich Minderheiten in Nachbarländern. Es hat nichts mit den Muslimen in Indien zu tun." Und er beschwor die indischen Muslime, keinen anders lautenden "Fehlinformationen" zu glauben.
Kritiker nennen das Gesetz muslimfeindlich und verfassungswidrig. In den indischen Nordoststaaten fürchten viele Menschen, das Gesetz könnte einen Immigrationsschub von Hindus aus Bangladesch auslösen. Doch trotz allen Gegenwinds glauben die wenigsten an eine Kertwernde der BJP.
Das Ende des Pluralismus?
Ähnlich sieht es mit dem Nationalen Bürgerregister aus. Bisher existiert es nur im Nordoststaat Assam, wo es eingeführt wurde, um die Immigration aus dem benachbarten Bangladesch zu erfassen. Die BJP-Regierung will es für ganz Indien einführen. Dies sei nötig, um legale Einwohner von "Eindringlingen" zu unterscheiden. Doch trotz Beteuerungen von Innenminister Shah, es gehe nicht um Diskriminierung einzelner Gruppen, formiert sich Widerstand.
Bisher wurden weder die Kriterien, noch der Zeitplan bekannt. Experten gehen jedoch davon aus, dass man - ähnlich wie in Assam - einen aufwendigen bürokratischen Prozess durchlaufen muss, um im Nationalen Register als Inder geführt zu werden. So werde man zum Beispiel anhand von Grundstückseigentum oder Mietverträgen nachweisen müsssen, dass man einen festen Wohnsitz hat. In Assam bestanden ganze 1,9 Millionen der rund 30 Millionen Einwohner den Bürgerschaftstest nicht - viele von ihnen gehören nicht-hinduistischen Minderheiten an.
Manche Beobachter fürchten, ein solcher Prozess könnte viele Menschen - zumal Minderheiten - in große Unsicherheit stürzen: "Das ist ein gefährlicher Schritt und potenziell ein Angriff auf die Staatsbürgerschaft von Muslimen allgemein", sagt Pamela Philipose, Forscherin vom Indischen Rat für Sozialwissenschaftliche Forschung. Die Menschenrechtsaktivistin Shabnam Hashmi sieht es ähnlich: "Zusammen haben das neue Staatsbürgerrecht und das Nationale Bürgerregister das Potenzial, das politische System Indiens auf die Herrschaft einer Mehrheitsgruppe zuzuschneiden, in dem Bürgerrechte zwischen Bevölkerungsgruppen gegeneinander abgestuft werden."