Wie Rechtsextreme den Begriff "Remigration" kaperten
15. Januar 2024Das Unwort des Jahres 2023 ist eigentlich ein unaufgeregter wissenschaftlicher Begriff: Unter "Remigration" verstehen Sozialwissenschaftler das Phänomen, wenn Menschen nach einem Lebensabschnitt im Ausland wieder in ihr Herkunftsland zurückziehen. Das kann als Reaktion auf eine Änderung in den politischen Verhältnissen vor Ort erfolgen, zum Beispiel wenn ein Krieg endet oder ein Regime abgelöst wird. Remigration kann auch erzwungen sein, also das Resultat einer Abschiebung oder Ausweisung.
Was es in seiner ursprünglichen Verwendung definitiv nicht bedeutet: Einen staatlich gesteuerten Prozess, in dem Individuen gegen ihren Willen aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen werden, um womöglich unter dem Einsatz von Zwang außer Landes geschafft zu werden. Genau darum geht es den Rechtsextremen, die im November heimlich über solche Pläne debattiert haben.
An dem vom Recherchenetzwerk Correctiv in der vergangenen Woche aufgedeckten Treffen in Potsdam nahmen unter anderem auch Vertreter der vom deutschen Verfassungsschutz in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuften AfD teil, die derzeit in Umfragen einen Höhenflug erfährt und bei Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern sogar zur stärksten Kraft aufsteigen könnte.
"Remigration" ist Unwort des Jahres 2023
Rechtsextreme reißen also einen einst seriösen wissenschaftlichen Begriff aus dem Kontext und vereinnahmen ihn für ihre politischen Zwecke - darauf will die "Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres" aufmerksam machen.
Nach der Wahl zum Unwort des Jahres solle diese Täuschung nicht mehr so leicht gelingen, hofft der frühere Generalsekretär der konservativen CDU, Ruprecht Polenz, der in diesem Jahr als Gastjuror mit über den Begriff entschied. "Der harmlos daherkommende Begriff Remigration wird von den völkischen Nationalisten der AfD und der Identitären Bewegung benutzt, um ihre wahren Absichten zu verschleiern - die Deportation aller Menschen mit vermeintlich falscher Hautfarbe oder Herkunft, selbst dann, wenn sie deutsche Staatsbürger sind", erklärte Polenz.
AfD nutzt das Wort schon länger
Seit den Correctiv-Enthüllungen gibt es eine breite Debatte in Deutschland über das heimliche Treffen - und damit auch über den Begriff Remigration. Dabei benutzen Rechtsextreme die Vokabel schon länger: "Bereits seit 2016 versuchen rechte Gruppierungen, den aus der Migrationsforschung stammenden Begriff ideologisch zu vereinnahmen und umzudeuten", zitierte die Katholische Nachrichtenagentur die Sprecherin der Jury, Constanze Spieß. Der Begriff finde sich auch während des ganzen Jahres in Bundestagsdebatten.
So sagte der AfD-Abgeordnete Roger Beckamp am 5. September in einer Debatte über den angespannten Mietmarkt: "Eine erfolgreiche Wohnungspolitik für unser Land heißt millionenfache Remigration." Diese sei "technisch möglich" und "moralisch geboten". Das könne man auch anders sehen, "aber dann sind Sie halt inländerfeindlich", hielt Beckamp Parlamentariern aus anderen Fraktionen vor.
In Deutschland waren zur Jahresmitte 2023 laut Zahlen des Bundesverwaltungsamts knapp 280.000 Menschen ausreisepflichtig, wobei der überwiegende Teil von ihnen eine Duldung hatte - also eine Bescheinigung, die eine Abschiebung aufschiebt. Lediglich 54.330 Menschen waren ausreisepflichtig ohne Duldung.
Aus diesen Zahlen wird deutlich, was auch Thema des Potsdamer Treffens war: Wer "millionenfache Remigration" fordert, meint damit die Ausweisung von Menschen, die nach geltendem Recht dauerhaft in Deutschland leben dürfen.
In Potsdam ging es laut Correctiv explizit auch um die Frage, wie deutsche Staatsbürger des Landes verwiesen werden könnten. Das wäre ein Verstoß gegen Artikel 3 des Grundgesetzes, in dem es heißt: "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."
Experten warnen vor Verharmlosung
Experten warnen deshalb davor, dass mit dem Wort Remigration die Absichten der Rechtsextremen verharmlost werden sollen. Der Evangelische Pressedienst zitiert die Frankfurter Extremismusforscherin Alice Blum: "Der Begriff, der zunächst unaufgeregt klingt, wird benutzt, um eine Politik zu machen, die alles andere als ungefährlich ist." Wer den scheinbar harmlosen Begriff nutze oder in der Berichterstattung unkritisch weiterverbreite, verschleiere die gewaltvolle und sehr bedrohliche Forderung der Neuen Rechten, die damit verbunden sei.
Der Soziologe Matthias Quent schrieb in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung": "Neu sind diese verbrecherischen Absichten nicht, doch die Schamlosigkeit, mit der die Remigrationspläne auch nach den Enthüllungen öffentlich vertreten, verteidigt und relativiert werden, lässt erschaudern."
Aus seiner Sicht lässt sich das Remigrations-Konzept der AfD als Absicht zu "rassistisch motivierten Staatsverbrechen" werten. Das schreibt Quent unter Zuhilfenahme einer Formulierung, die aus einem Gutachten im Verbotsprozess gegen die seit langem in Deutschland aktive rechtsextreme Partei NPD stammt. Der Prozess scheiterte 2017: Das Bundesverfassungsgericht attestierte ihr zwar eine verfassungsfeindliche Gesinnung, aber unzureichenden Einfluss für ein Parteiverbot.
"Remigration" erinnert an das allererste Unwort des Jahres
Der Bericht über das Treffen hat eine Debatte um ein Verbotsverfahren gegen die AfD angestoßen. Zugleich gibt es Demonstrationen für eine offene Gesellschaft und die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Diese Ziele liegen auch dem Unwort des Jahres seit seinen Anfängen zugrunde: Die Gesellschaft für deutsche Sprache gab erstmals 1991 ein solches Unwort heraus, nachdem Neonazis in der ostdeutschen Stadt Hoyerswerda Menschen tätlich angegriffen hatten, die sie als nicht-deutsch wahrnahmen. Das Unwort des Jahres 1991 griff ihren Kampfbegriff auf, ihr Umfeld solle "ausländerfrei" werden.