Wie sich Alpenbewohner vor Lawinen schützen
14. Januar 2019Seit die Menschen Täler besiedeln, mussten sie einen Weg finden, mit Lawinen umzugehen, denn Lawinenschutz ist eine Lebensversicherung in den Bergen. Die Schweiz im Winter 1951, der als Lawinenwinter in das kollektive Gedächtnis eingegangen ist: Rund 1300 Mal donnerten die Schneemassen ins Tal. Nach Angaben des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos starben 99 Menschen, mehr als 70 von ihnen in Gebäuden. In keinem anderen Winter seit Aufzeichnungsbeginn 1936 wurden annähernd so viele Menschen durch Lawinen getötet wie damals.
Dieses Ereignis habe den zusätzlichen Antrieb gegeben, großflächig Lawinenschutzbauten zu errichten, sagt der Historiker Christian Rohr, Professor für Umwelt- und Klimageschichte der Universität Bern, dem Schweizer Sender SRF im November 2018. Spätestens nach diesem Winter war klar: "Entweder man siedelt ganze Täler ab oder man investiert sehr viel." Die Schweizer entschieden sich dafür, ihren Lebensraum nicht aufzugeben.
Um die Menschen vor Lawinen schützen zu können, muss man sie zunächst verstehen. Dafür sorgt seit den 1940er Jahren das weltweit renommierte Forschungs- und Dienstleistungszentrum SLF.
Nach Aussage von Lukas Stoffel, Mitarbeiter im Bereich Schutzmaßnahmen, ist relativ leicht erkennbar, wo Lawinen prinzipiell entstehen können. "Typisches Lawinengelände ist steiler als 28 bis zirka 50 Grad." Ein Indiz für Lawinenabgänge könne auch sein, dass an einem Hang kein Wald vorhanden ist oder dieser unterbrochen ist.
Ein komplexer Prozess
Schnee donnert aber nicht einfach so hinab. Weitere Faktoren wie Wind, Temperatur, Niederschlag, die Struktur der Schneedecke, die Geländebeschaffenheit und die Ausrichtung des Hangs zur Sonne spielen eine Rolle. Je nachdem, wie diese Faktoren zusammenwirken, kann die Lawinengefahr steigen. Neuschnee kombiniert mit Wind erhöht dem SLF zufolge das Potenzial für Abgänge. Eine weitere Faustregel lautet: Je steiler und schattiger, desto gefährlicher. Auch starke Temperaturerhöhungen in kurzer Zeit vergrößern die Gefahr.
Eine Lawine entsteht, wenn die Bindung zwischen den Eiskristallen nicht stark genug ist. Eine Schneedecke, die aus mehreren verschiedenen Schichten besteht, ist besonders anfällig. Ein kleiner Impuls durch Neuschnee, ein Tier oder durch Menschen kann ausreichen, die letzten Bindungen zu destabilisieren. Was dann zunächst klein anfängt, reißt auf dem Weg bergab immer mehr Schnee, teils auch Geröll, mit sich.
Manchmal ist das Lawinen-Problem aber auch menschengemacht. Wälder sind natürliche Bremsen für kleinere Lawinen und sorgen mit ihrer Struktur dafür, dass die Schneeungetüme in ihrem Bereich überhaupt nicht entstehen. Hat der Mensch die Wälder gerodet, um das Holz zu verarbeiten oder die Fläche landwirtschaftlich zu nutzen, hat er selbst Lawinengebiete geschaffen. Das Bewusstsein für die Bedeutung von Schutzwäldern ist in den vergangen Jahrzehnten wieder erwacht, sodass auch wieder aufgeforstet wird.
Doch egal wie fortgeschritten die Forschung ist, es lässt sich nicht genau bestimmt, wann eine Lawine kommt. Immerhin: Ist die Gefahr erhöht, lässt sich der Abgang laut Stoffel auf einen Zeitraum von mehreren Stunden recht gut vorhersagen.
Bauliche Maßnahmen gegen Lawinen
Um diese Rest-Unsicherheit zu umgehen, treten Experten Lawinen im wahrsten Sinne des Wortes auch mal selbst los, bevor zu viel Schnee liegt. Wird mit einer kleinen Explosion eine Lawine frühzeitig künstlich ausgelöst, so ist das umliegende Gebiet gesichert und Lawinen bleiben kleiner.
Idealerweise kommt es aber gar nicht erst zu einer Lawine. In den Anrissgebieten - dort, wo eine Lawine beginnt - können sogenannte Stützverbauungen aus Stahl oder auch Schneenetze verhindern, dass sich Lawinen lösen. Diese Lawinenverbauungen können die Schneedecke stabilisieren oder dafür sorgen, dass sich der Schnee nicht ungünstig ablagert. Sind diese Maßnahmen keine Option oder nur ein Teil der Lösung, können verschiedene Bauwerke, die Lawine umleiten, abbremsen oder sogar stoppen.
Für den Fachmann am SLF haben solche baulichen Maßnahmen den Vorteil, dass im Gegensatz zu Sprengungen oder Sperrungen keine menschlichen Entscheidungen getroffen werden. Zudem sind sie recht langlebig. An einem Steindamm müsse 80 oder 100 Jahre lang nur selten etwas getan werden, so Stoffel.
Ein simpler Schutz vor der tödlichen Gefahr ist es, ihren typischen Bahnen auszuweichen: Nach Auskunft des Bundesamts für Umwelt in der Schweiz ist die Lawinengefahr für 98 Prozent des Landes in einer Karte erfasst. In roten Bereichen darf kategorisch kein neues Gebäude geplant werden.
Wertschätzung für jahrhundertealtes Wissen
Welche Bedeutung der Lawinenschutz im Alpenraum hat, lässt sich auch an einer Entscheidung der UNESCO ablesen. Die Kommission nahm Ende November den Antrag von Österreich und der Schweiz an, das über Jahrhunderte erworbene Wissen über den Umgang mit Lawinen in die weltweite Liste des immateriellen Kulturerbes aufzunehmen. Die UN-Organisation erfasst dort unter anderem Rituale, traditionelles Handwerk, darstellende Künste, aber auch überlieferte Kenntnisse.
In der Begründung der UNESCO hieß es, der Umgang mit Lawinen habe die Identität der Bewohner geprägt. Die Alpenbevölkerung habe im Laufe der Jahrhunderte empirisches Wissen gesammelt und Praktiken entwickelt, um sich vor Lawinen zu schützen. Dies sei "in der Alltagskultur der Gemeinschaften verwurzelt und verdeutliche die Bedeutung der Solidarität in einer Krisensituation".
Der Erfahrungsschatz des SLF ist auch im Ausland gefragt. "Das kleine Team vom SLF, das zu Schutzmaßnahmen arbeitet, wird immer wieder für Gutachten oder Beratungen herangezogen", sagt Stoffel. Einsatzorte waren etwa Chile oder das russische Sotschi.
In Chile ging es darum, eine Straße zu einer Kupfermine zu sichern, die stark lawinengefährdet ist. Projektleiter Stoffel berichtet, die Auftraggeber hätten sich bewusst für Experten aus dem Alpenraum entschieden. "Sie wollten auf unsere Erfahrung zurückgreifen, weil wir es gewohnt sind, mit solchen Gefahren umzugehen und Strategien entwickelt haben."
Dass sich die Strategien bezahlt gemacht haben, zeigt sich in der Statistik. Seit dem Winter 1998/99 ist in der Schweiz kein Mensch mehr innerhalb eines Gebäudes durch eine Lawine zu Tode gekommen, auch Verkehrswege sind vergleichsweise sicher geworden. Gleichbleibend tödlich sind Lawinen dagegen im freien Gelände.