Wie sich Konzerne und Startups näher kommen
14. Dezember 2021Christian, Florin, Mehdi und sechs weitere Kollegen arbeiten gerade 16 Stunden am Tag: Black Friday und Weihnachten bedeuten für den Logistikdienstleister Fiege Hochsaison. Morgens früh rollen die neun sogar ganz alleine durch das Schuhlager des Familienunternehmens in Ibbenbüren, scannen Aufträge, greifen sich Kartons aus den Regalen und laden sie an der Übergabestation für den Versand ab. Retouren bringen sie zurück an den Platz.
Trotz ihrer menschlichen Namen sind die fleißigen Wesen nicht aus Fleisch und Blut: Es sind Kommissionier-Roboter der Marke Toru. Geschaffen hat sie das Münchener Startup Magazino. Fiege, 1873 gegründet, rund 20.000 Mitarbeiter und 150 Standorte weltweit, wurde Pilotanwender.
Der Chef des traditionsreichen Familienunternehmens, Jens Fiege, traf vor sechs Jahren den Gründer Frederik Brantner bei einem Logistikkongress. Der eine suchte nach einer Lösung für die Herausforderungen des boomenden Online-Handels mit seinen extremen Schwankungen und hoher Produktvielfalt. Der andere brauchte einen Partner aus der Wirtschaft, um den Roboter in einem realen Umfeld bis zur Marktreife zu entwickeln.
Großunternehmen wollen mitspielen
Toru kann nur Schuhkartons, das ist aber ein sehr großer Arbeitsbereich bei Fiege. Aus ursprünglich drei Robotern wurden nach und nach neun, die nicht mehr in einem abgegrenzten Testbereich herumwuseln, sondern sich frei bewegen. Sie suchen sich die Wegstrecke selbst, arbeiten mit den menschlichen Kollegen zusammen und holen sich notfalls Hilfe bei ihnen. Sie lernen, sich nicht gegenseitig zu blockieren und keine großen Kisten auf kleine zu stapeln.
Fiege überlegt, sie auch an weiteren Standorten einzusetzen. Zudem hat der Logistikdienstleister Anteile an Magazino gekauft. "Uns war es wichtig, die Entwicklung nicht nur von der Seitenlinie aus zu beobachten, sondern selbst mit auf dem Spielfeld zu stehen", sagt Christoph Mangelmans, der bei Fiege die Geschäftseinheit Omnichannel Retail leitet.
Innovationslabs, Inkubatoren, Acceleratoren und Beteiligungsgesellschaften gehören fast schon zum guten Ton, besonders bei den Konzernen. Kooperationen gibt es in der unterschiedlichsten Form: gemeinsame Forschung und Entwicklung, bessere Konditionen durch den gemeinsamen Einkauf, Referenzen und neue Vertriebskanäle für das Produkt des jungen Unternehmens bis hin zur Beteiligung oder Übernahme.
Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Businessplan-Wettbewerbe, Matching-Plattformen wie z.B. Ambivation, regionale und Branchenveranstaltungen oder der Hightech-Gründerfonds (HTGF) bringen mehr oder weniger gezielt potenzielle Partner zusammen. "Wir sehen regelmäßig ganz erhebliche Synergien. Wichtig ist: Dauerhaft klappen Kooperationen nur, wenn beide Seiten davon profitieren", so der HTGF-Geschäftsführer Alex von Frankenberg im hauseigenen Online-Magazin DeepDive. Für solche Partnerschaften spreche auch die Tatsache, dass in Deutschland Start-ups relativ selten den Endverbraucher adressierten. Mehr als zwei Drittel der Umsätze werden mit Produkten und Dienstleistungen für Geschäftskunden gemacht.
Strategische Investoren, die ihnen Zugang zu Märkten und Branchenexpertise verschaffen, wünschen sich auch 43 Prozent der befragten Jungunternehmen im diesjährigen Deutschen Start-up-Monitor: Tatsächlich nutzen aber nur 15 Prozent Corporate Venture Kapital, eine Verbindung von Kooperation und Investition. Die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist sogar coronabedingt etwas größer geworden: "Erstens, fehlen die Events und die Möglichkeiten, sich kennenzulernen", meint Niklas Vogt vom Deutschen Start-up Verband. Zweitens, hätten viele Unternehmen in der Krise gespart und sich auf ihr Kerngeschäft konzentriert.
Kettensägen und Drohnen für Förster
Dennoch: Auch in der Pandemie gab es jede Menge interessante Kooperationen. Beispiel: Stihl und Flynex. Stihl ist für seine sehr handfesten Produkte weltweit bekannt: die Kettensäge und andere Geräte für Forst und Garten. Das von drei ehemaligen Bundeswehr-Offizieren und einem Informatiker gegründete Flynex vermittelt kommerzielle Drohnenflüge und hilft, die Anmeldung bei den Behörden zu organisieren und die Daten auszuwerten. Was haben nun Kettensägen und Drohnen gemein?
"Stihl stuft Geschäftsmodelle mit Geodaten und deren Analysen als zukunftsrelevant ein", antwortet Benjamin Junghans, Direktor der Tochter Stihl Digital GmbH. Drohnen liefern hochaufgelöste Bilder unter anderem aus schwer zugänglichen Gegenden, zum Beispiel aus dem Wald nach einem Sturm. Das senke die Inspektionskosten bis zu 90 Prozent, so Flynex. Stihl beteiligte sich an dem Start-up, das er durch den HTGF kennengelernt hatte.
"Wir können digitale Lösungen auch komplett inhouse entwickeln, das wäre aber langwieriger und teurer, da das Know-how erst aufgebaut werden muss", betont Junghans. "Uns ist insbesondere im digitalen Bereich eine Zusammenarbeit mit Start-ups wertvoll, da sie agil, iterativ und kundennah entwickeln und Meister ihrer Lösung und ihrer Technologie sind". Die Start-ups zeigten den traditionsreichen Unternehmen, wo sie sich verbessern könnten und profitierten ihrerseits von der hohen Fertigungskompetenz, dem globalen Netzwerk und der starken Marke.
Fehler und Rückschritte sind Erkenntnisgewinn
"Das Wichtigste bei der Zusammenarbeit mit Start-ups ist es, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln", meint Christoph Mangelmans von Fiege. Klassische Unternehmen hätten keine so ausgeprägte "Trial-and-Error-Denke" und kämen manchmal schnell zu dem Schluss, dass etwas nicht funktioniert. Start-ups sähen dagegen in Fehlern und Rückschritten meistens einen Erkenntnisgewinn. "Da haben wir in den vergangenen Jahren unheimlich viel lernen dürfen".
Experimentierfreudig zeigte sich auch Ford in Köln: Der Autokonzern unterzeichnete Anfang Oktober eine Vereinbarung mit der studentischen Firma RheinSharing. Das Start-up will Ladestationen für E-Autos und E-Bikes mit Rhein-Wasserkraft speisen. Das geht auch ohne Staumauer: Den Strom erzeugen Mini-Turbinen, die sich unmittelbar am Ufer, praktisch unter den Ladestationen drehen.
Die ersten Turbinen werden wohl am Werksgelände von Ford in Köln-Niehl ins Wasser gelassen. Die sechs Gründer und Gründerinnen, die an der Technischen Hochschule Köln studieren, sind dabei, die Strömungsgeschwindigkeit zu messen, die Kosten und die Energieerträge zu berechnen und die Technologie anzupassen.
Ab wann Strom fließen wird und wie viele Fahrzeuge dort "tanken" können, kann der angehende Ingenieur Marcel Heilich noch nicht sagen. Die Kooperation passt aber zu den Plänen von Ford, in Köln-Niehl seine europäischen E-Autos zu produzieren.