Wie spanische Familien unter der Krise leiden
15. September 2012Seit mehr als drei Monaten leben 36 obdachlose Familien in einem leerstehenden Haus in Sevilla. Die Baufirma ging pleite, konnte die Hypothek nicht mehr bedienen und stellte die Bautätigkeit ein. Die andalusische Stadt hat eine Arbeitslosenquote von etwa 30 Prozent.
"Mietshaus Utopia" nennen die Hausbesetzer das Gebäude. Hier lebt Mercedes mit ihrer Tochter und Enkelin. Der Sommer ist heiß, es gibt kein fließendes Wasser. Die Hausbesetzer sind auf die Hilfe und Barmherzigkeit der Nachbarn angewiesen, die Essen und Wasser in großen Behältern sowie Dinge des täglichen Bedarfs für das sieben Monate alte Baby spenden. Mit wenig mehr als ein paar Luftmatratzen und Kartons beißen sich Mercedes und ihre Familie durch.
Hilflos in der Krise gefangen
Im "Haus der Utopie" hausen die Familien ohne Strom und Wasser, seitdem das Elektrizitätswerk die Versorgung eingestellt hat. So wie ihnen geht es mittlerweile vielen Spaniern und die Kürzung der Sozialleistungen hat die Situation nur noch verschärft.
Spaniens wirtschaftliche Situation ist im besten Falle prekär zu nennen, insbesondere seitdem die Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy einschneidende Sparmaßnahmen zur Senkung des hohen Haushaltsdefizits beschlossen hat. Bis zu 65 Milliarden Euro sollen eingespart werden. Teil der sogenannten "Anpassung": Die Mehrwertsteuer wurde von 18 auf 21 Prozent angehoben - während Ausgleichszahlungen für Spanier, die bedürftige Familienmitglieder pflegen, um 15 Prozent gekürzt wurden.
"Ich bekomme kein Arbeitslosengeld oder sonstige Zahlungen - lediglich 280 Euro für meine kleine Enkeltochter, da meine Tochter alleinerziehend ist und auch keine Arbeit hat", erzählt Mercedes. Vor der Finanzkrise sei sie Köchin gewesen, berichtet sie der Deutschen Welle, und habe auch im Gesundheitsamt der Stadt gearbeitet. Nach der letzten drastischen Kürzungsrunde wurde ihr Vertrag im vergangenen Jahr gekündigt. Neue Arbeit fand sie nicht: "Plötzlich standen wir auf der Straße, mit nur einem Koffer, unseren Fotos, unseren Erinnerungen und meiner Tochter, die zu der Zeit noch schwanger war."
"Null Euro im Monat"
Auch Fran und Inma leben in dem besetzten Haus. Ihnen erging es ähnlich wie Mercedes und ihrer Familie. Bis vor kurzem arbeitete Fran als Versicherungskaufmann: Er verdiente ungefähr 300 Euro im Monat. Der Verdienst reichte nicht aus, um für die Familie mit drei kleinen Kindern ein Haus zu mieten, also lebten sie getrennt. Inma zog mit den Kindern bei ihren Eltern ein und Fran lebte allein.
Zwei Jahre ging das so, bis Fran vom "Mietshaus Utopia" hörte und die Familie beschloss, sich in einer der leerstehenden Wohnungen einzuquartieren. "Wir leben von nichts, von Null Euro im Monat", erklärt Fran. "Ich bekomme kein Arbeitslosengeld, da ich nicht in die Sozialversicherung eingezahlt habe, als ich noch einen Job hatte. Wir können jetzt nur noch auf die Hilfe meiner Schwiegereltern und Eltern zählen."
Rekordarbeitslosigkeit in Spanien
Die Arbeitslosenquote in Spanien liegt bei 24 Prozent, in der andalusischen Stadt Sevilla sogar bei 30 Prozent. Jeder fünfte spanische Haushalt ist von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht - schlimmer ist es in Europa nur noch in Rumänien und Lettland.
Vanesa, ebenfalls Hausbesetzerin, befindet sich in einer besonders kritischen Situation: Eines ihrer drei Kinder ist schwerbehindert und benötigt eine tägliche Behandlung. Für die speziellen Bedürfnisse ihres Kindes stehen Vanesa eigentlich Ausgleichszahlungen zu. Der Gemeinderat teilte ihr allerdings mit, derartige Leistungen seien mittlerweile auf Eis gelegt worden.
"Sie wollen uns die Kinder wegnehmen"
Die Stadt habe kein Geld, klagt Vanesa, und sie habe keine Ahnung, wann sie wieder etwas erhalte. Die Reinigungsfirma, für die sie und ihr Mann gearbeitet haben, ging pleite. Seitdem hat die Familie keinerlei Einkünfte mehr. Die Firma schuldet dem Paar noch den Lohn für sechs Monate sowie eine Abfindung, die jedem Arbeitnehmer in Spanien bei einer Entlassung zusteht. Der Lohngarantiefonds hat sich der Sache angenommen, aber die Organisation ist von der Masse der Fälle völlig überfordert.
"Das Arbeitslosengeld ist aufgebraucht. Wir sind jetzt völlig von der Hilfe der Nonnen und meinen Eltern abhängig", meint Vanesa. Ihr Mann verdiene ein bisschen mit dem Verkauf von Sperrmüll hinzu, aber das sei so gut wie nichts. Das Sozialamt habe sogar gedroht, ihnen die Kinder wegzunehmen, erzählt die Frau sichtlich bewegt.
Das Sparklima in Spanien macht den Familien spürbar zu schaffen. Gleichzeitig organisieren die größten Gewerkschaften des Landes Proteste gegen die Kürzungen der Regierung Rajoy. Für Mitte September haben die Gewerkschaften zu einer Massenkundgebung in Madrid aufgerufen - "gegen die Ungerechtigkeit", die, so die Opposition, den Abbau des spanischen Sozialstaats verursacht hat.