Wie viel FDP steckt im Koalitionsvertrag?
27. November 2021Verkehrte Welt bei der Regierungsbildung in Deutschland: "Mir fehlt die Fantasie", war im Bundestagswahlkampf ein oft von Christian Lindner zu hörender Satz. Damit meinte der Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei (FDP) die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland nach 16 Jahren unter der christdemokratischen Bundeskanzlerin Angela Merkel von einer Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und FDP regiert werden könnte.
Christian Lindner als Finanzminister sorgt bei Grünen für Unbehagen
Doch genau dieser Fall wird nun sehr wahrscheinlich eintreten, nachdem sich dieses Trio in Anlehnung an die Parteifarben Rot, Grün und Gelb auf eine sogenannte Ampel-Koalition geeinigt hat. Nun fehlt nur noch die Zustimmung der Basis, die sich SPD und FDP von ihren Delegierten auf Parteitagen und Grüne in einer Mitgliederbefragung holen wollen.
Am meisten Überzeugungsarbeit müssen dabei wohl die Grünen leisten, weil in ihren Reihen viele den Koalitionsvertrag beim Klimaschutz für zu schwach halten. Das Gefühl, bei diesem Thema habe sich die wirtschaftsliberale FDP durchgesetzt, ist weit verbreitet. Der Eindruck verstärkt sich in der Umweltpartei noch, weil der designierte Finanzminister Christian Lindner heißt. Damit bekommt die kleinste der künftigen Regierungsparteien eines der einflussreichsten Ressorts.
Die Ressortverteilung wirkt ausgewogen
Ist die FDP also die große Siegerin im Tauziehen um Ministerien? Und wie sieht es bei den inhaltlichen Akzenten des Koalitionsvertrages aus? Den wichtigsten Posten, das Bundeskanzleramt, wird natürlich die Wahlsiegerin übernehmen. Neben Olaf Scholz bekommen die Sozialdemokraten sechs Ministerien. Fünf sind es für die Grünen, die Freien Demokraten erhalten vier. Dieses Zahlenverhältnis entspricht in etwa dem Ergebnis bei der Bundestagswahl: SPD 25,7 Prozent, Grüne 14,8 und FDP 11,5.
Finanzminister in spe Christian Lindner ist mit dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen "zufrieden". Bei der Präsentation des auf 177 Seiten zusammengefassten Ergebnisses sprach er von einer künftigen "Regierung der Mitte". Sozialdemokraten und Grüne könnten "stolz sein auf das, was sie in diesen Koalitionsvertrag hineinverhandelt haben". Sie seien "starke Verhandler mit guten Argumenten" gewesen.
Der FDP fehlt ein klassisch internationales Ministerium
Redet so jemand, der meint, für die FDP mehr herausgeholt zu haben als die Anderen für ihre Parteien? Da lohnt sich – unter anderem – ein Blick auf die genaue Ressortverteilung. Die Liberalen werden neben den Finanzen für Justiz, Verkehr und Bildung zuständig sein. Ein Mix, der zu passen scheint für eine politische Kraft, die sich seit jeher besonders für Bürger- und Freiheitsrechte stark macht. Die im Verkehrsministerium außerdem federführend für Digitales zuständig sein wird. Und die im Wahlkampf für die "weltbeste" Bildung warb.
Was fehlt, ist ein im klassischen Sinne internationales Ministerium. Das fällt schon deshalb auf, weil die FDP als Regierungspartei über Jahrzehnte den Außenminister gestellt hat. Deutschlands Chefdiplomatin soll aber Annalena Baerbock von den Grünen und mit ihr erstmals eine Frau werden. Verteidigungs- und Entwicklungsministerium gehen beide an die SPD. Die FDP geht auf diesem Feld also leer.
Die Grünen werden auf der Weltbühne sichtbarer denn je sein
Es sei denn, man zählt das Finanzministerium ebenfalls zu jenen Ressorts, die international von großer Bedeutung sind. Das kann man durchaus sehen, wenn man nur an die Regulierung von Finanzmärkten denkt oder die Einführung einer globalen Mindeststeuer, an der Deutschlands künftiger Bundeskanzler Olaf Scholz als Finanzminister beteiligt war.
Aus dieser Perspektive betrachtet wird die FDP also auch außerhalb Deutschlands sichtbar und einflussreich sein. Das gilt für die Grünen aber erst recht, weil sie in der sich abzeichnenden Ampel-Koalition das Auswärtige Amt übernehmen werden und das künftig für Klimaschutz zuständige Wirtschaftsministerium.
Keine Steuererhöhungen, aber ein steigender Mindestlohn
Und wie sieht es bei den inhaltlichen Schwerpunkten des Koalitionsvertrages aus? Der künftige deutsche Finanzminister Christian Lindner hatte sich im Wahlkampf früh festgelegt: "Mit der FDP wird es keine Steuererhöhungen geben." SPD und Grüne hätten gerne Reiche mehr zur Kasse gebeten. Hat sich also die FDP durchgesetzt? Ja und Nein. Denn am liebsten wären ihr sogar Steuersenkungen gewesen. Die waren aber angesichts der Milliarden-Verschuldung infolge der Corona-Pandemie unrealistisch.
Dass die im Grundgesetz, der deutschen Verfassung, verankerte Schuldenbremse erst 2023 wieder greifen soll, lässt sich als Kompromiss zwischen den drei Ampel-Parteien interpretieren. Beim Thema Mindestlohn musste die FDP den Wünschen von SPD und Grünen nachgeben. Von 9,60 auf zwölf Euro soll die gesetzliche Lohnuntergrenze steigen. Ob dieser Eingriff mit der Tarifautonomie vereinbar ist, wird wohl vor Gericht entschieden werden. Die FDP sieht einen Mindestlohn grundsätzlich skeptisch.
Zuletzt war die FDP 2013 an einer Bundesregierung beteiligt
Ist der Koalitionsvertrag der designierten Ampel-Regierung nun besonders gelb gefärbt, wie manche meinen? Oder leuchten die Farben Rot und Grün auch so stark, wie es das Wahlergebnis erwarten ließ? Diese Frage wird jeder danach beantworten, welche Ziele und Hoffnungen man damit verbindet. Die FDP wirkt im ersten Moment am zufriedensten. Kritik von den Jugendorganisationen ist vor allem bei SPD und Grünen zu hören.
Christian Lindner sprach bei der Präsentation des Verhandlungsergebnisses vom gemeinsamen Auftrag der Ampel, Deutschland zu modernisieren. "Wir bilden eine Koalition, in der sich die drei Partner nicht begrenzen durch das, was unvereinbar in den Programmen war." Die Kompromisssuche mündete in das Motto "Mehr Fortschritt wagen". So lautet der Titel des Koalitionsvertrages. Nach seiner für Anfang Dezember geplanten Wahl zum Bundeskanzler wird Olaf Scholz sein Kabinett vorstellen. Mit dabei die FDP – zuletzt gehörte sie der Bundesregierung 2013 an.