Wie weit geht die Islamisierung der Türkei?
26. April 2016"An die Trennung von Staat und Religion könnten zwei Prinzipien treten", mutmaßt die Islamwissenschaftlerin Kathrin Eith von der Universität Halle. "Der Islam sunnitischer Prägung würde womöglich als Staatsreligion festgelegt und die Scharia, die traditionelle islamische Rechtsprechung, als Grundlage bestimmter Rechtsgebiete."
Der Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul vermutet hinter der Initiative des türkischen Parlamentspräsidenten Ismail Kahraman einen politischen Testballon. "Es gibt innerhalb der Regierungspartei AKP Kräfte, die eine islamistische Orientierung nicht nur der Partei, sondern der gesamten Türkei anstreben", meint Hans-Georg Fleck. Er gehe jedoch davon aus, dass ein Großteil der AKP diese Diskussion nicht anstoßen wollte - "jetzt, wo ganz andere Fragen auf der Tagesordnung stehen".
Parlamentspräsident Kahraman hatte bei einer Konferenz in Istanbul mit seiner Forderung nach einer islamischen Verfassungsreform für Aufsehen gesorgt: "Wir sind ein muslimisches Land. Deshalb brauchen wir eine religiöse Verfassung", erklärte er. Mit der Aussage schockierte er die Kemalisten im Land, die an den staatlichen Laizismus glauben und brach ein wohl gehegtes politisches Tabu.
Denn in der Präambel der Verfassung heißt es bisher: "Heilige religiöse Gefühle dürfen absolut keine Rolle in staatlichen Angelegenheiten und der Politik spielen". Darin drückt sich einer der Grundpfeiler der Republik aus, die Kemal Atatürk 1923 gründete.
Der junge türkische Staat setzte die Prinzipien des Laizismus in den 1930er und 1940er Jahren zunächst konsequent um: Wallfahrten nach Mekka und der Religionsunterricht wurden verboten, Kopftücher aus dem öffentlichen Raum verbannt. Noch immer gilt die strikte Trennung von Staat und Religion in der Türkei gemeinhin als unantastbar.
Islamismus statt Säkularismus?
Nun sieht Karahman offenbar die Gelegenheit, den Islam auf die politische Bühne zu befördern. Nachdem die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im November vergangenen Jahres die Parlamentswahlen mit absoluter Mehrheit gewann, fordern Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Anhänger eine Reform der Verfassung.
Politischer Gegenwind
Kritik kam umgehend vom Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu: "Säkularismus ist ein Prinzip des sozialen Friedens", schrieb der Chef der säkularen Mitte-Links-Partei CHP im Kurznachrichtendienst Twitter. "Es sollte uns nicht verwundern, dass diejenigen, die es schon lange auf unseren sozialen Frieden abgesehen haben, dieses Prinzip ignorieren."
Auch in den eigenen Reihen stieß der Vorschlag Kahramans prompt auf Ablehnung. Der AKP-Politiker und Leiter der Verfassungskommission, Mustafa Sentop, erklärte, im neuen Entwurf werde der Säkularismus als Grundsatz beibehalten. "Der Parlamentspräsident ist unabhängig, er spricht nicht im Namen einer Partei."
Der Weg zur "Neuen Türkei"
Ein osmanischer Präsidentenpalast, weniger Alkohol und mehr Kopftücher auf türkischen Plätzen - schleichend fand der Islam in die Öffentlichkeit der Türkei zurück. Zementiert sich der Kulturwandel nun in der Verfassung?
"Viele Wähler der AKP sind der Ansicht, dass der Staat die religiöse Verwurzelung seiner Bürger respektieren muss", sagt der Büroleiter der Friedrich-Namann-Stiftung, Hans-Georg Fleck. "Wenn Karahman sagt, die Türkei hat eine religiös geprägte Bevölkerung und braucht deshalb eine religiös akzentuierte Verfassung, dann ist das mit Sicherheit nicht ganz falsch". Das hieße jedoch nicht, so Fleck, dass man die kemalistische Staatsordnung aushebeln wolle.
"Tiefe Spaltung in der Gesellschaft"
Islamisierungstendenzen gibt es laut Fleck in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen. Was 2012 mit der schrittweisen Aufhebung des Kopftuchverbots für Studentinnen, Parlamentarierinnen und Anwältinnen begann, ging mit strengeren Alkohol- und Zigarettengesetzen, dem Bau von Moscheen und der Errichtung von Koranschulen weiter.
Für die Islamwissenschaflerin Kathrin Eith birgt eine solche Entwicklung erhebliche Gefahren. Auch wenn die Türkei wohl kaum zu einer islamischen Republik nach dem Vorbild des Irans würde, warnt sie vor einer Polarisierung: "Ich sehe eine tiefe Spaltung in der Gesellschaft zwischen einem westlich orientierten, städtischen Bürgertum, das offensichtlich heutzutage in der Defensive ist und einem Mehrheitsmilieu, das eine Art traditionell-islamische Lebensführung für sich reklamiert."