Regierungskrise im Public Viewing
27. Mai 2019"Es ist die Mehrheit. Ja!", schreit ein Mann aus dem Publikum beim Public Viewing im Camineum-Saal in der Nationalbibliothek. Normalerweise sind Besucher im Nationalrat selbst zugelassen, doch heute ist eine Ausnahme: Auf der Pressetribüne im Parlament herrscht enormes Gedränge. Auch die Besuchergalerie im Plenarsaal ist von Medienvertretern besetzt. Deswegen werden interessierte Bürger gebeten, in den Raum am Wiener Josefsplatz auszuweichen. Auch hier sind fast alle Stühle besetzt. Auf der Leinwand sind Politiker zu sehen, die sich rechtfertigen und sich gegenseitig Fehlverhalten vorwerfen. Die Redner werden von donnerndem Applaus oder lauten Buhrufen unterbrochen. Auch beim Public Viewing wechseln sich starker Beifall und Protest des Publikums ab. Alle warten gespannt auf die Abstimmung.
Kurz nach 16 Uhr ist es so weit: Die zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures bittet die Parlamentarier um ein Zeichen, sollten sie Bundeskanzler Sebastian Kurz und seiner Regierung das Vertrauen entsagen. "Der gegenständliche Antrag ist somit angenommen", ertönt es einige Sekunden später aus den Lautsprechern. Es folgen Gelächter und Applaus in der Nationalbibliothek. Eine gewisse Erleichterung ist im Raum zu verspüren.
Eine Frau, die sichtlich verärgert ist, sucht den Ausgang. Sie hätte sich ein anderes Ergebnis erhofft. "Für mich ist das inakzeptabel und unnötig. Wenn eine Wahl bevorsteht, bewirkt die Regierung ohnehin nicht viel. Ich hoffe, dass Kurz im September weit über 40 Prozent bekommt", so die Wienerin Violetta gegenüber der DW. Der Student Paul hingegen nimmt die Situation gelassen. Er findet das Votum sowieso irrelevant: "Im September werden die Karten ohnehin neu gemischt. Das wird spannender. Jetzt geht es ja nur um diese Überbrückungsphase." Anders sieht es der Schüler Pascal. Für ihn ist die Abstimmung vollkommen gerechtfertigt: "Ich war nie für schwarz-blau. Aber die Regierung war demokratisch gewählt und so hat jede Regierung auch ihre Chance verdient. Sie haben es aber vergeigt."
Schlussstrich unter Kurz-Kanzlerschaft
Zum ersten Mal in der Geschichte der Zweiten Republik wird einer österreichischen Regierung das Misstrauen ausgesprochen. Der stellvertretende SPÖ-Klubchef (Fraktionsvorsitzender - d. Red.) Jörg Leichtfried warf Bundeskanzler Kurz vor, in zwei Jahren zwei Regierungen gesprengt zu haben. "Fakt ist: Die Regierung Kurz ist gescheitert", sagte der SPÖ-Vertreter. Kurz habe die Regierungskrise zu verantworten. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner beschrieb das Vorgehen des Bundeskanzlers als "schamlosen, zügellosen und verantwortungslosen Griff nach der Macht". Er habe im eigenen Interesse gehandelt und nicht die Staatsräson in den Vordergrund gestellt, so Rendi-Wagner. Der Kanzler habe jegliches Vertrauen verspielt, da er die Opposition völlig ignoriert habe, hieß es.
Vor dem antiken Prachtbau auf dem Ring steht auf einem Riesenschild "Bau.Stelle Parlament". Während das historische Parlamentsgebäude für drei Jahre generalsaniert wird, weicht der Nationalrat in die Redoutensäle der Hofburg aus. Doch das österreichische Parlament ist nicht nur optisch zur Baustelle geworden, sondern auch politisch.
Einzigartige Situation
Obwohl es seit 1945 bereits 185 Versuche gegeben hat, ist es bisher kein einziges Mal gelungen, einer Regierung das Misstrauen auszusprechen. Dieser Weg ist für den Nationalrat das schärfste Mittel der Kontrolle. Die jüngsten Ereignisse machen Sebastian Kurz zum Bundeskanzler mit der kürzesten Amtszeit der Zweiten Republik. Seit der Angelobung (Vereidigung - d. Red.) von Kurz sind nur 525 Tage vergangen.
Die Stunde von Hartwig Löger
Bundespräsident Alexander Van der Bellen kündigte am Abend an, dass er die aktuelle Regierung unter Führung von Vizekanzler Hartwig Löger noch für kurze Zeit im Amt belassen werde. In spätestens einer Woche solle dann eine andere Übergangs-Regierung stehen, die die Staatsgeschäfte mindestens bis zur geplanten Neuwahl im September führen solle. Die Bestellung des neuen Kanzlers oder der neuen Kanzlerin werde mit besonderer Rücksicht auf das Parlament erfolgen, sagte Van der Bellen weiter. Es gelte, weitere Misstrauensanträge zu verhindern.
Keine politischen Ambitionen
Der Politologe Reinhard Heinisch von der Universität Salzburg erklärt: "Beim Misstrauensvotum ging es darum, dem Kanzler die Möglichkeit zu nehmen, alleine auf der politischen Bühne zu stehen, in einer Krise, die er selbst heraufbeschworen hat", so Heinisch im Gespräch mit der DW. Die SPÖ würde nun für den Übergang jeden akzeptieren, der nicht direkt aus dem Umfeld von Kurz ist. Politische Granden aus der alten Fraktion der ÖVP, die Kurz durchaus kritisch gegenüberstehen, hätten gute Chancen.
Ein interessanter Aspekt des Votums aus Sicht des Politikexperten ist, dass zwei inhaltlich sehr gegensätzliche Parteien, nämlich die Sozialdemokraten und die Freiheitlichen, einen gemeinsamen Weg gegangen sind. "Der SPÖ konnte vorgeworfen werden, als Steigbügelhalter für das Comeback der FPÖ gedient zu haben", meint Heinisch. Die SPÖ hätte außerdem eine schwache Position, da sie den Misstrauensantrag nicht mit Blick auf den Wählerwillen eingebracht hat, sondern aufgrund der inneren Frustration mit der Regierung Kurz.
Unsichere Zeiten
Für Österreich bedeute das ausgesprochene Misstrauen das Ende der klassischen Zweiten Republik, so der Politikexperte im DW-Gespräch. Das österreichische Modell des Konsens, in dem die beiden Großparteien regierten, ist Geschichte. "Die Regierung Kurz war schon eine Zäsur, die hart gegen die Sozialdemokratie vorging und bewusst mit der FPÖ gegen Grundsätze der Zweiten Republik agierte. Die Bevölkerung muss sich auf unsichere Zeiten einstellen. Die Nachkriegsära der Stabilität ist zu Ende", meint der Salzburger Politikwissenschaftler.
Die Wienerinnen und Wiener sehen das nicht alle so. Bis September haben die österreichischen Politiker Zeit, ihr Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen.