Wieviel Europa steckt im Koalitionsvertrag?
12. März 2018An diesem Montag wollen CDU, CSU und SPD den Koalitionsvertrag unterzeichnen. Das Dokument trägt die Überschrift "Ein neuer Aufbruch für Europa" - so viel europäisches Engagement dürfte heutzutage selten sein in einem Regierungsprogramm. Und auch wenn die Einzelheiten meist vage bleiben, so ist dem Vertrag doch eine Menge Europabegeisterung anzumerken.
Die neue Bundesregierung will die Europäische Union insgesamt stärken und zusammen mit Frankreich vor allem die Eurozone reformieren. Sie ist für einen neuen Investivhaushalt für die Eurozone - ein Projekt, für das bereits Frankreichs Präsident Emmanuel Macron immer wieder geworben hat. Der Europäische Stabilitätsmechanismus soll nach dem Willen der Koalition in einen echten Europäischen Währungsfonds verwandelt werden, der Mitgliedsstaaten in finanziellen Schwierigkeiten helfen soll; die Kontrolle darüber soll das Europaparlament haben. Und dann die erstaunliche Zusage: "Wir sind auch zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit." Hintergrund dafür ist, dass der EU mit dem anstehenden Brexit ein sehr wichtiger Nettozahler fehlen wird; Deutschland will also einen Teil der Lücke füllen.
Die Brüsseler Kommission ist erwartungsgemäß begeistert von so viel europäischem Geist, viele Europaabgeordnete sind es auch. Manfred Weber, Chef der konservativen EVP-Fraktion im Parlament, twitterte: "Es ist ein klar europäischer Vorstoß und eine Antwort auf Populisten." Sein SPD-Kollege Jo Leinen sagte im Deutschlandfunk zum Koalitionsvertrag: "Die europäische Einigung ist eine der letzten Visionen, die wir in der Politik noch haben (…) Das Europa-Kapitel ist eine Botschaft nach innen, aber auch an die Partner, dass man im positiven Sinne mit Deutschland rechnen muss."
Ifo-Chef: "Wegschmeißen und neu machen"
Der europapolitische Ehrgeiz wird aber nicht überall positiv aufgenommen, vor allem das finanzielle Engagement stößt auf Widerstand. Im Inland und im Europaparlament warnen Politiker von FDP und AfD, aber auch von der Union vor einer drohenden Transfer- und Schuldenunion. Wolf Klinz, wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP, sagte, mit der geplanten Aufstockung des EU-Haushalts mache sich die GroKo zur Komplizin der Linksregierung in Griechenland. Deutschland, das jahrelang in südlichen "Problemstaaten" als Zuchtmeister gegolten hat, werde so zum Zahlmeister Europas, befürchtet Klinz.
Noch schärfer fällt die Kritik von Clemens Fuest aus, dem Leiter des Münchener Ifo-Instituts. Er nennt das Europakapitel des Koalitionsvertrags "katastrophal", weil Deutschland bereit sei, mehr zu zahlen, ohne dafür Gegenleistungen zu verlangen. Das sei "unglaublich leichtsinnig und leichtfertig". Finanzschwache Länder hätten so einen Anreiz, ihre Lasten auf Deutschland abzuwälzen. Den geplanten europäischen Investivhaushalt hält Fuest zudem für überflüssig, weil die Einzelstaaten selbst investieren könnten. Fuest kommt zu dem vernichtenden Schluss: "Dieses Programm kann man wegschmeißen und neu machen."
Zu sehr auf Frankreich konzentriert
Problematisch scheint auch zu sein, dass die angehende neue Bundesregierung in der Europapolitik zu ausschließlich auf die deutsch-französische Zusammenarbeit gesetzt hat. Ohne sie läuft zwar nichts, so die einhellige Meinung. Aber sie allein kann nichts bewirken, wenn andere nicht mitziehen. Und um die gesamteuropäische Zusammenarbeit steht es im Moment schlecht.
Bereits Macrons Vorstellungen eines Finanzministers und eines vergrößerten Haushalts für die Eurozone kamen nicht nur in Teilen der deutschen Politik, sondern auch in Österreich, den Niederlanden und den drei nordischen EU-Mitgliedern schlecht an. Dann ist da der unbereinigte Konflikt innerhalb der EU um Migration und speziell um die Verteilung von Flüchtlingen. Vor allem die osteuropäischen Staaten weigern sich strikt, Flüchtlinge nach einem längst beschlossenen Quotensystem aufzunehmen, worauf Merkel immer wieder gedrängt hat und wie es auch der Koalitionsvertrag noch einmal fordert. Zwischen der Europäischen Kommission einerseits und Polen und Ungarn andererseits geht es zusätzlich um Vorwürfe rechtsstaatlicher Defizite. Die Brexit-Verhandlungen halten die EU ebenfalls auf. Und in praktisch allen EU-Staaten sind rechtspopulistische und europaskeptische Parteien auf dem Vormarsch - alles Hindernisse für den "neuen Aufbruch für Europa", wie ihn sich Union und SPD in Deutschland wünschen.
Italienwahl als "Zeitenwende"
Was den europapolitischen Schwung aber vielleicht am meisten bremsen wird, ist das Ergebnis der Parlamentswahl in Italien, dem drittgrößten Land der Eurozone, vor rund einer Woche. Mehr als die Hälfte der Italiener hat Parteien ihre Stimme gegeben, die nicht mehr, sondern weniger Europa wollen. Zwei der Wahlgewinner, die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega, mögen in vielen Dingen unterschiedlich denken, eine Vertiefung der EU ist aber für beide völlig abwegig. Im Gegenteil, es gab bei ihnen sogar Forderungen nach einem Ausstieg aus dem Euro, auch wenn es darüber inzwischen still geworden ist. Dazu kommt noch, dass allein die Regierungsbildung kompliziert und langwierig sein dürfte und Italien für diese Zeit als Gestalter ausfällt.
Die Berliner Koalitionäre sind sich der Probleme bewusst. Spätestens seit der Wahl in Italien "muss man sich große Sorgen um den Zustand der EU machen", glaubt Gunther Krichbaum, Vorsitzender des Europaausschusses des Bundestages. Es drohe eine "Zeitenwende". Die europäische Aufbruchstimmung, wie sie von Macron und vom deutschen Koalitionsvertrag verbreitet wird, so befürchtet Krichbaum, könnte vorbei sein, bevor sie überhaupt in Gang kommt.