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"Wir fühlen uns verraten!"

17. Dezember 2001

Vor einem Jahr leitete der ukrainische Präsident Leonid Kutschma mit einem Knopfdruck das Ende von Tschernobyl ein. Seitdem arbeiten die Beschäftigten nur noch an der endgültigen Abwicklung der Atomkraftanlage.

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Der Unglücksreaktor von TschernobylBild: AP

Der Schichtleiter im nordukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl muss bei der Erinnerung an den 15. Dezember des Vorjahres tief durchatmen. "Die endgültige Abschaltung Tschernobyls trieb vielen von uns Tränen in die Augen, es war eine Tragödie", erinnert sich Sergej Kondratenko. "Die Stilllegung geschah doch nur auf Druck des Westens, wir fühlen uns verraten", sagt der Ingenieur im Kontrollraum des letzten betriebenen Reaktorblocks 3.

Der niedrige Leitstand des noch zu Sowjetzeiten 1983 fertig gestellten dritten Reaktorblocks erinnert an eine Kommandozentrale im Raumschiff Enterprise. Überall blinken rote, grüne und gelbe Lämpchen. Regler wollen gezogen und Überwachungsbildschirme beobachtet werden. Doch gearbeitet wird in der Schaltzentrale des Druckröhrenreaktors kaum noch. An den noch 30 Arbeitsplätzen verlieren sich drei Atomingenieure.

Der Reaktor muss sich abkühlen

Der rechte Flügel des Kontrollzentrums, zuständig für Turbinen und Generatoren, ist verwaist. Denn seit dem 15. Dezember 2000, als der ukrainische Präsident Leonid Kutschma mit einem Knopfdruck das Ende von Tschernobyl einleitete, produziert die Anlage keinen Atomstrom mehr. Der Reaktor muss aber über Jahre abgekühlt werden. "Frühestens in fünf Jahren können wir die radioaktiven Brennelemente herausholen", erläutert Ingenieur Kondratenko.

Im nordukrainischen Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 die schlimmste Katastrophe in der Geschichte der friedlichen Kernenergienutzung. An den Folgeschäden sind bislang in der Ukraine, Weißrussland und Russland Zehntausende von Menschen gestorben, niemand kennt die genaue Zahl. Mehr als drei Millionen Ukrainer sind als Betroffene der Katastrophe registriert.

Diese Schreckenszahlen haben die verbliebenen Atomexperten in Tschernobyl nicht von ihrer Überzeugung abbringen können. "Wir hätten den letzten noch funktionstüchtigen Block weiter betreiben sollen", sagt der Ingenieur Nikolai Solowjow (42) im Kontrollzentrum. Nur die Atomkraft könne den Energiemangel im Land beheben.

Zahlungen aus dem Westen bleiben aus

Als 27-Jähriger hatte Solowjow die durch individuelle Fehler und Konstruktionsmängel verursachte Explosion des vierten Reaktorblocks im Kraftwerk selbst erlebt. Der Kernenergie ist der Ingenieur ("bin kerngesund") dennoch bis heute treu geblieben.

Als die ukrainische Staatsführung auf Druck des Auslands die Schließung Tschernobyls bekannt gab, herrschte zunächst Panik unter den mehr als 5600 Angestellten des Atomkraftwerks. "Bislang hat sich aber für die meisten nichts geändert", sagt Oleg Goloskokow, Referent der Tschernobyl-Direktion. Massenentlassungen seien bislang ausgeblieben, doch das kommende Jahr bringe Ungewissheit. Der Westen halte Zusagen für Zahlungen im Sozialbereich nicht ein und im ukrainischen Haushalt fehle das Geld, heißt es in Tschernobyl.

Abwicklung nur noch traurige Pflicht

Im Gespräch äußern Tschernobyl-Mitarbeiter immer wieder ihren Eindruck, vom westlichen Ausland verraten worden zu sein. Im Gegenzug zur Schließung Tschernobyls war vereinbart worden, zwei Atomreaktoren im Land mit ausländischen Milliardenkrediten fertig zu stellen. Doch die Verhandlungen platzten Ende November, weil sich die Ukraine außer Stande sieht, die Kredit-Bedingungen zu erfüllen. Umstritten sind unter anderem notwendige Preiserhöhungen für Stromverbrauch und die Schaffung einer unabhängigen Atom-Kontrollbehörde.

Die Atomingenieure Solowjow und Kondratenko zählen zu den Hunderten von Spezialisten, die den langen Stilllegungsprozess des dritten Tschernobyl-Blocks begleiten werden. Die ersten beiden Blöcke waren nach Problemen bereits 1991 und 1996 abgeschaltet worden. "Früher bin ich immer mit Enthusiasmus an die Sache gegangen", erinnert sich Nikolai Solowjow. Die Arbeit heute im toten Reaktor empfinde er nur noch als traurige Pflicht. (pg)