"Wir wollen die Bildungskultur ändern"
18. November 2019An einem Spätsommertag packte die 25-jährige Julia Ignatiewa ihre Koffer und zog aus Moskau weg. Aus der Hauptstadt fuhr sie in die Provinz.
Auf dem Weg zu Julias neuem Zuhause, das Tausendseelendorf Worsino, geht es vorbei an einer großen Industrieanlage. Dann wird es ländlicher. Goldene Felder säumen die Straße, kleine sowjetische Plattenbauen, Sommergärten und von grünen Wellblechzäunen umstellte Einfamilienhäuser ziehen vorbei.
Gleich neben einer überwucherten Kirchenruine steht seit 1975 die Dorfschule. An ihrer Fassade hängt lustlos eine russische Flagge, als warte sie auf einen Windstoß.
Auf den Gängen der Schule schallen Kinderstimmen. Hinter der Tür des "Klassenzimmers für Fremdsprachen" steht Julia an der Tafel. Lächelnd fragt sie ihre Schüler: "How are you feeling today?" Von den Achtklässlern starren einige schweigend auf ihren Tisch, andere kichern und antworten mit einem lauten "Goood!"
Das System von unten aufrütteln
Julia ist keine gewöhnliche Lehrerin. Sie hat eine Mission. Als Absolventin einer Moskauer Eliteuniversität war sie für zwei Jahre an einer vernachlässigten Schule in der russischen Provinz. Sie ist Teilnehmerin des Programmes "Lehrer für Russland".
"Wir wollen die Bildungskultur an den Schulen ändern", sagt Julia. Vor einigen Jahren schloss sie ihr Jurastudium ab. "Danach ging ich zwei Jahre lang einem langweiligen Job nach. Das war an einer staatlichen Behörde. Ich wollte weg vom Großstadtstress." Julia suchte nach einem Weg, sich gesellschaftlich einzubringen.
Das Programm "Lehrer für Russland" existiert seit einigen Jahren. Es wurde von zwei jungen Frauen initiiert, die selbst das Privilegium eines Studiums in verschiedenen Ländern genossen. Sie wollen erreichen, dass sich mehr junge Menschen ihrer Möglichkeiten bewusst werden. Das russische Bildungssystem soll mit ihrem Programm von unten aufgerüttelt werden.
Heute erfreut sich das Programm großer Beliebtheit. Jährlich bewerben sich mehr als 2000 Menschen, von denen es nur etwa zehn Prozent ausgewählt werden. Die "Lehrer für Russland" kommen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen und werden dann für zwei Jahre an schwierige Schulen geschickt.
Mit dem Chauffeur zur Schule gebracht
An den Schulen sind die "Lehrer für Russland" mit herausfordernden Verhältnissen konfrontiert. Julia fühlt sich an der Schule in Worsino in die Vergangenheit versetzt. "Nicht nur das Gebäude, auch die Unterrichtsmethoden sind antiquiert", sagt Julia. Statt auf strengen Unterrichtsstil wie in Russland sonst üblich zu setzen, versucht sie mit frischen Methoden und eigener Motivation etwas zu verändern. "Wir arbeiten daran, dass alles anders wird."
Das Programm soll die Ungleichheiten im Bildungsbereich verringern. "Die Unterschiede in Russland sind gewaltig." Denn in Russland haben meisten Großstädte sehr gute Bildungseinrichtungen. Je weiter es aber hinaus in die Peripherie geht, desto weniger Lehrer, Ressourcen und Wissen gibt es.
Julia erzählt, dass sie selbst aus keiner reichen Familie kommt. "Dennoch habe ich es auf einer sehr prestigeträchtigen Schule geschafft. Die meisten Kinder dort, wurden von einem Chauffeur gebracht." Sie alle hätten gewusst, warum sie an der Schule Englisch lernten. "Nach dem Abschluss gingen viele in die USA oder Großbritannien."
In Worsino sei alles umgekehrt. "Die Kinder verstehen nicht, warum sie Englisch lernen sollen. Sie kommen gar nicht auf die Idee, ins Ausland zu reisen." Die meisten sprechen nur Russisch und waren "mit ihren Eltern nie im Ausland".
"Warum haben wir nicht gelernt, so zu unterrichten?"
Eine Etage tiefer sitzt Larissa Pawlowna Bober in ihrem kleinen Büro. "Vor 25 Jahren kam ich als Chemielehrerin an die Dorfschule, heute leite ich sie", erzählt sie. Darüber dass Julia an ihre Schule kam, freut sich die Rektorin. "Mir gefällt ihre innovative Herangehensweise an den Unterricht. Wir lernten damals das Lehren nach einem strengen Schema." Die Rektorin sagt, sie werde fast schon neidisch, wenn ihr die Kinder im Gang entgegenkommen und von Julias Unterricht schwärmten. "Warum haben wir nicht gelernt, die Kinder so zu unterrichten?", fügt sie nachdenklich hinzu.
Die Menschen der russischen Gesellschaft würden die Mühen der Lehrer kaum wertschätzen, beklagt Bober. "Die Eltern kommen zur Schule und erwarten, dass wir ihnen Bildung liefern wie ein Produkt aus der Fabrik." So einfach sei es aber nicht. "Wir sind keine Verkäufer, sondern erziehen zukünftige Generationen."
Damit das weitergehe, braucht es mehr motivierte Lehrer "Wir freuen uns über jeden neuen Lehrer, der kommt. Das passiert selten genug."
Lehrermangel durch schlechte Arbeitsbedingungen
Denn Bildungspolitik hat in Russland keine Priorität. Im Jahr gibt der russische Staat pro Schüler etwa 220 Euro aus, der Bildungsvorreiter Norwegen stellt die zwanzigfache Summe zur Verfügung.
Dass es eine junge Frau wie Julia an eine Schule in Russland geht, ist eine Seltenheit. Talentierte Schulabgänger entscheiden sich nur selten für den Lehrerberuf. Denn Lehrer werden in Russland nur sehr schlecht entlohnt. In einigen Regionen reichen die umgerechnet etwa 130 Euro kaum zum Überleben. Selbst ungelernte Verkäufer verdienen häufig besser als Lehrer.
Das führt dazu, dass das Durchschnittsalter von Lehrern in Russland bei mehr als 50 Jahren liegt. Mit immer mehr Lehrern, die in Rente gehen, wird der Lehrermangel zunehmen. Das "Lehrer für Russland"-Programm zahlt seinen Teilnehmenden deshalb einen finanziellen Zuschuss zum regulären Lehrergehalt.
"Auch Schüler wollen Respekt"
Auch Julias Schüler finden, dass die zu vielen Lehrer an ihrer Schule zu alt seien. "Manche Lehrer sind älter als meine Oma", sagt ein Mädchen, ihre Klassenkameraden kichern. "Hätten wir mehr junge Lehrer, dann würde der Unterricht auch mehr Spaß machen. Dann mache ich auch mal mit."
Trotz einiger Reformen fußt das Schulsystem Russlands noch auf dem sowjetischen Erbe. Kritisches Hinterfragen wird vom Curriculum und den Lehrern kaum gefordert. Dafür müssen die Schüler viel auswendig lernen. Die älteren Lehrer sehen sich häufig als einzige, uneingeschränkte Autorität im Klassenraum.
Davon erzählen auch Julias Schüler: "Die anderen Lehrer schlagen mit der Hand auf den Tisch, schreien uns an und geben uns das Gefühl, dumm zu sein. Sie sind so gemein, dass wir manchmal Angst haben, zu atmen", erzählt eine Schülerin.
Die Schüler appellieren an Gerechtigkeit. "Nicht nur die Schüler sollten ihre Lehrer respektieren, sondern auch umgekehrt. Wir sind auch Menschen", sagen sie.
Die Schulglocke läutet. Die Schüler packen hastig ihre Sachen zusammen, verabschieden und laufen aus dem Klassenzimmer. Julia blickt ihnen hinterher. "Es stimmt, dass die Schulen sich nur langsam verändern", sagt sie. Dennoch glaubt sie an Veränderungen von unten, die bei den Menschen anfangen. "Auch mit kleinen Schritten, können wir große Taten vollbringen."