Wird die Autostadt Wolfsburg die VW-Krise überleben?
22. Oktober 2024Das Erste, was der Reisende, der mit dem Zug ankommt, von Wolfsburg sieht, sind vier gigantische Schornsteine, die ein riesiges Fabrikgebäude überragen. Und über allem prangt das VW-Logo in Blau und Weiß. Willkommen in der Volkswagenstadt, der Heimat einer der größten Autofabriken der Welt.
Wolfsburg wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Planstadt gebaut, d. h. sie wurde für einen bestimmten Zweck entworfen und auf zuvor unbebautem Land in der Nähe der Kleinstadt Fallersleben errichtet, die nun ein Stadtteil von Wolfsburg ist. Die nationalsozialistischen Machthaber nannten die Neugründung am 1. Juli 1938 "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben". KdF (Kraft durch Freude) war eine Organisation, die Freizeit und Urlaub für die Arbeiterschaft im Sinne des NS-Regimes organisierte.
Das KdF-Auto war als preiswertes Angebot für die Massen geplant - als ein "Volkswagen" eben. Doch zwischen 1939 und 1945 wurden fast ausschließlich Militärfahrzeuge gebaut. Erst nach dem Krieg rollte der später zur Automobil-Ikone gewordene "VW-Käfer", der auf den Plänen für den KdF-Wagen basierte, in großer Zahl von den Bändern.
Wolfsburg verdankt seine Existenz dem Volkswagen-Konzern, und wenn VW niest, bekommt Wolfsburg gleich einen Schnupfen, so lautet eine verbreitete Redensart.
Das Ende des Traums?
Zurzeit hängt allerdings die Krise des Autobauers wie ein Damoklesschwert über der Stadt: Europas größter Autobauer plant erstmals in seiner Geschichte, deutsche Werke zu schließen und Tausende von Arbeitern zu entlassen.
Mehr als 60.000 Menschen arbeiten für VW in Wolfsburg, einer Stadt mit 120.000 Einwohnern. Die Löhne bei VW liegen höher als in der übrigen Autobranche. Gut für die Belegschaft, schlecht für den Konzern - denn die Lohnkosten liegen hier über dem Durchschnitt der deutschen Autoindustrie, der 2023 bei rund 62 Euro pro Arbeitsstunde lag. Mit einem mittleren Einkommen von 5238 Euro ist Wolfsburg eine der wohlhabendsten Industriestädte Deutschlands. Nur Ingolstadt, wo der Autohersteller Audi, der auch zur Volkswagen-Gruppe gehört, seinen Sitz hat, ist noch reicher.
Kristin Rößer sagt, das Leben eines typischen 25-jährigen Wolfsburgers sei es, zu heiraten, ein Haus mit Garten und Auto zu besitzen und Kinder zu haben. Die Immobilienmaklerin führt durch ein Haus im Bungalow-Stil, das ihrer Meinung nach typisch für das Zuhause vieler VW-Mitarbeiter in Wolfsburg sei. Ein Raumteiler, petrolfarbene PVC-Böden und gelbe Küchenfliesen erinnern an die Zeit, als viele dieser Häuser in den 1960er Jahren gebaut wurden.
Die fetten Jahre sind vorbei
Rößer, die ihr ganzes Leben in Wolfsburg verbracht hat, spürt die große Unsicherheit in der Stadt. Es riefen VW-Arbeiter bei ihr an, entschlossen, ihre Häuser zu "verkaufen, bevor sie an Wert verlieren", sagt sie im Gespräch mit der DW. Andere Kunden hätten ihre Kaufverträge auf den letzten Drücker storniert. "Die Leute zögern, ein neues Haus zu kaufen und wollen ihr Geld zusammenhalten, bis sie wissen, was VW entscheidet", sagt sie.
Im Jahr 2023 erzielte der Autokonzern noch einen soliden Gewinn von mehr als 18 Milliarden Euro und zahlte 4,5 Milliarden Euro Dividende an die Aktionäre aus. Dennoch startete das VW-Management im vergangenen Jahr ein Effizienzprogramm, das 10 Milliarden Euro bis 2026 einsparen soll, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.
Im August 2024 erklärte das Management, dass weitere Sparmaßnahmen erforderlich seien, darunter die Schließung von möglicherweise zwei Autowerken in Deutschland und ein drastischer Abbau der insgesamt rund 120.000 Arbeitsplätze des Konzerns in Deutschland.
Schweigen vor den Werkstoren
An diesem Oktobernachmittag wirft die Sonne ein mildes Herbstlicht auf das Tor 17 des weitläufigen VW-Geländes. Hunderte Arbeiter strömen hindurch, nachdem sie um 14 Uhr ihre Frühschicht beendet haben. Sie tragen weiße Overalls und Pullover oder Hemden mit dem VW-Logo.
Als sie auf den riesigen Parkplatz vor der Fabrik zusteuern, wirkt ihre Stimmung gedrückt, kaum einer will mit der DW sprechen oder von der Kamera aufgenommen werden. Nach der massiven Medienberichterstattung über die VW-Schieflage in den vergangenen Wochen haben die meisten von ihnen keine Lust, immer wieder die gleiche Frage zu beantworten.
Einer sagt dann aber doch, dass die Arbeiter natürlich um ihre Jobs fürchten, und ein anderer fügt hinzu, ihnen bleibe jetzt nur noch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft des Autobauers: "Wir haben viele Krisen überstanden, wir werden auch diese überstehen", sagt er.
Wie sich die Zeiten ändern
Die Unternehmenssteuern auf die enormen Gewinne von VW haben Wolfsburg zu einer wohlhabenden Stadt gemacht. Auch, wenn man das der Innenstadt nicht ansieht. Wolfsburg ist eine Auto-Stadt, deren Zentrum von breiten Straßen mit vielen Parkplätzen umgeben ist. An diesem sonnigen Nachmittag ist es hier fast menschenleer. Einige Käufer schlendern die Porschestraße entlang, aber sie kommen meist an leeren Schaufenstern vorbei. Was es noch gibt sind ein paar Billigläden und hin und wieder die flackernden Lichter einer Spielhalle.
Die wenigen Cafés und Bars entlang der Hauptstraße sind auch nicht so gut besucht, wie es ein warmer Tag im Oktober vermuten lässt. Djuliano Saliovski sagt, dass viele seiner Kunden vor nicht allzu langer Zeit einmal pro Woche zum Abendessen kamen, jetzt aber oft nur noch einmal im Monat.
Saliovski, ein Flüchtling aus dem Kosovo, und seine Frau haben vor einigen Jahren in Wolfsburg ein Hotel mit Restaurant eröffnet und sind bei ihren Gästen beliebt. Die meisten von ihnen begrüßen sie persönlich mit Namen.
Die Covid-19-Pandemie vor zwei Jahren habe die Zahl der Restaurant- und Hotelreservierungen bereits deutlich reduziert, sagt er der DW, "aber jetzt sind es noch weniger." Zu dieser Jahreszeit, so bemerkt er, würden viele Buchungen für Weihnachten eingehen, aber dieses Jahr sei das nicht der Fall.
Trotz allem glaubt Saliovski noch, dass sich die Situation "umkehren" wird. Er plant sogar, sein Geschäft in Wolfsburg zu erweitern, indem er zusätzlich zu den Immobilien, die er bereits in der Stadt besitzt, ein neues Gebäude kauft.
Wird die Stadt zum Museum?
Die glorreichen Tage der Automobilproduktion in Wolfsburg kann man im Volkswagen-Museum an der Dieselstraße bewundern. Eine riesige Sammlung von Oldtimern umfasst die beliebtesten Modelle des Unternehmens, darunter den berühmten Käfer, der zwischen 1938 und 2003 mehr als 20 Millionen Mal produziert wurde, oder den VW-Kleinbus "Bulli", der als Mehrzweckfahrzeug der Wirtschaftswunderjahre galt und mit dem später die deutsche Flower-Power-Generation der 1960er und -70er Jahre um die Welt fuhr.
Das Museum ist ein Muss für jeden Wolfsburg-Touristen. Allein im vergangenen Jahr zog es mehr als 300.000 Menschen nach Wolfsburg und zu VW. Die sogenannte Autostadt ist ein 28 Hektar großer automobiler Themenpark, der Einblicke in "die Welt der Mobilität" bietet, und wo bisher mehr als drei Millionen Autofahrer die Schlüssel zu ihrem neuen Volkswagen-Modell überreicht bekamen.
Düstere Aussichten
Aber immer weniger Touristen kommen nach Wolfsburg, klagt ein Taxifahrer gegenüber der DW. Noch vor einigen Jahren hätten Taxiunternehmen "die Nachfrage von Touristen und Geschäftsreisenden kaum bewältigen können".
Ein Zeichen, dass Wolfsburgs Tage als europäische Autohauptstadt gezählt sind? Kann es sein, dass Volkswagen, noch vor wenigen Jahren der umsatzstärkste Autohersteller, nicht genügend Kunden für seine Elektroautos gewinnen kann, die die Zukunft der Branche sein sollen?
Der Taxifahrer befürchtet, dass die goldenen Jahre in Wolfsburg vorüber sein könnten. "Diese Zeiten sind lange vorbei", sagt er und meint, es könnte sogar "noch schlimmer werden".
Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert