Rezession und weiterhin hohe Inflation
9. November 2022Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die sogenannten Wirtschaftsweisen, rechnet 2023 mit einem Abschwung um 0,2 Prozent und einer hohen Inflation von 7,4 Prozent. Zur Finanzierung von Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger schlug das Gremium einen zeitlich befristeten höheren Spitzensteuersatz vor.
Im ersten Halbjahr dieses Jahres sei die deutsche Wirtschaft noch durch den Konsum von Dienstleistungen gestärkt worden, schrieben die Wirtschaftsweisen in ihrem am Mittwoch veröffentlichten Gutachten. Seit der Jahresmitte hätten aber die hohen Preise für Energie und Lebensmittel die Kaufkraft geschwächt und den privaten Konsum gedämpft. Zugleich lastet die Energiekrise schwer auf der Industrieproduktion und die globale Konjunkturabkühlung führt zu einer sinkenden Nachfrage nach deutschen Exporten.
"Massiv verschlechterter Ausblick"
Aufgrund dieses "massiv verschlechterten Ausblicks" senkte der Sachverständigenrat seine Prognose. Für dieses Jahr werde noch ein Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent erzielt, im kommenden Jahr dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dann um 0,2 Prozent sinken, hieß es. Zugleich rechnet das Gremium damit, dass Exporte und Investitionen im kommenden Jahr wieder zunehmen, auch die Lieferengpässe dürften "langsam nachlassen".
Mit ihrer Prognose wich die Expertenrunde leicht von den Erwartungen der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sowie der Bundesregierung ab, die sich wiederum an den Instituten orientiert. Sie hatten für dieses Jahr ein BIP-Wachstum von nur 1,4 Prozent prognostiziert und gehen für 2023 von einem deutlicheren Abschwung um 0,4 Prozent aus.
Energiekrise treibt Inflation
Wegen der Energiekrise rechnet der Sachverständigenrat zudem mit einer anhaltend hohen Inflation - auch weil die dadurch hohen Produktionskosten nun zunehmend an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben würden. Die Expertinnen und Experten schätzen, dass die Inflation nach 8,0 Prozent in diesem Jahr im kommenden Jahr bei 7,4 Prozent liegen wird.
Angesichts der hohen Inflation müsse die Europäische Zentralbank (EZB) "weiterhin entschlossen handeln", forderte Ulrike Malmendier, Mitglied des Sachverständigenrats. "Die Kunst dabei ist, die Zinsen mit Augenmaß zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, ohne dass die Konjunktur übermäßig einbricht." Die EZB kann über die Leitzinsen die Inflation beeinflussen, eine zu niedrige Teuerung bremst aber das Wachstum.
Höhere Belastungen für Besserverdienende
Zu den Entlastungspaketen der Regierung erklärte der Sachverständigenrat, derlei Maßnahmen seien "grundsätzlich gerechtfertigt". Jedoch seien viele der beschlossenen oder geplanten Maßnahmen "nicht zielgenau", weil Sparanreize fehlten und auch reiche Haushalte profitierten, "die die Belastungen selbst tragen könnten". Das Gremium schlug daher vor, einkommensstarke Haushalte "streng befristet über einen Energie-Solidaritätszuschlag oder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes" an der Finanzierung der Entlastungsmaßnahmen zu beteiligen.
Daran kam Kritik von Lars Feld, der den Wirtschaftsweisen früher angehörte. "Wäre ich noch im Sachverständigenrat, hätte ich beim Vorschlag der Steuererhöhungen ein Minderheitsvotum verfasst", sagte der Ökonom dem Handelsblatt. "Dieser Vorschlag ist mit Ordnungspolitik nicht vereinbar", fuhr er fort. Vielmehr müssten gezielt Empfängerinnen und Empfänger von Transferleistungen entlastet werden.
Die Wirtschaftsweisen wiesen die Kritik zurück. Die Vorsitzende des Sachverständigenrates, Monika Schnitzer, sagte, die Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung seien nicht zielgenau genug. Es würden auch diejenigen entlastet, die es nicht nötig hätten. Es werde deswegen "zu viel Geld ins System" gegeben. Der Staat müsse noch mehr Schulden aufnehmen und die Inflation werde weiter angeheizt. Es gehe um ein Gesamtpaket aus Ent- und Belastungen, das wirklich solidarisch sei und damit zielgenau. Dies diene auch der Generationengerechtigkeit, so Schnitzer. "Unsere Kinder sollen nicht alles zahlen müssen." Deutschland sei durch die vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöste Energiekrise ärmer. "Irgendjemand muss das zahlen."
Arbeitgeber lehnen Steuererhöhungen ab
Auch die Arbeitgeber lehnen Steuererhöhungen ab. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger teilte am Mittwoch mit: "Angesichts der multiplen Herausforderung für Unternehmen, ist die Politik aufgerufen, alles zu tun, um Arbeitsplätze am Wirtschaftsstandort Deutschland und Wertschöpfung zu sichern. Steuererhöhungen gehören ganz sicher nicht dazu. Wir unterstützen daher den Bundesfinanzminister ausdrücklich in seiner ablehnenden Haltung." Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen und Politik, hob hervor, Deutschland habe nicht nur die höchsten Energiepreise, sondern auch die höchsten Steuern und ersticke in Bürokratie. "Mit Steuererhöhungen würde unser Land für Investitionen noch unattraktiver."
Zustimmung kam hingegen von der Gewerkschaft Verdi. "Die Lasten der Krise müssen jetzt sozial gerecht verteilt werden", erklärte deren Chef Frank Werneke. "Deswegen ist eine umverteilende Steuerpolitik überfällig."
Reduzierung der wirtschaftlichen Abhängigkeit
Angesichts der aktuellen geopolitischen Veränderungen mahnt der Sachverständigenrat an, dass Deutschland seine Abhängigkeiten verringern müsse. Die Abhängigkeiten vor allem von Energieimporten und bei kritischen Rohstoffen "sollten schnellstmöglich reduziert werden", erklärten die fünf Wirtschaftsweisen. Sie raten dazu, Bezugsquellen zu diversifizieren sowie Produktion und Lagerkapazität im Inland auszubauen.
Die fünf Weisen schlugen auch vor, europäische Produktionskapazitäten auszubauen, vor allem in den Bereichen erneuerbare Energien und heimische Rohstoffe. Unternehmen würden stärker auf Lagerhaltung setzen, wenn die steuerliche Benachteiligung der Lagerhaltung abgeschafft würde.
Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und den militärischen Drohgebärden Chinas gegenüber Taiwan ist das Bewusstsein in Deutschland für die große wirtschaftliche Abhängigkeit von China gestiegen. In der Politik und teils auch in der Wirtschaft wird seitdem diskutiert, dass diese Abhängigkeit möglichst bald reduziert werden sollte.
ul/hb (afp, dpa)