Wirtschaftsweise: "Wir sind nicht im Krieg"
30. März 2020Wird es auf ein kleines v, ein großes V, ein großes U oder etwa ein großes L hinauslaufen? In der Krise nehmen auch Wirtschaftswissenschaftler gerne Bilder zur Hilfe, um komplizierte Sachverhalte möglichst einfach zu erklären. In diesem Fall geht es um die Kurve, die die in der Corona-Pandemie gebeutelte Konjunktur in den nächsten Wochen und Monaten beschreiben wird. Das kleine v und das große V gehen von einem steilen Absturz der Wirtschaft und einer anschließend genauso steilen Erholung aus. Lediglich die Dauer des Abschwungs und des Aufschwungs sind einmal kürzer und einmal länger.
Bei einem U würde sich die Phase der Stagnation im Gegensatz zum V verlängern und bei einer Kurve, die einem L entsprechen würde, wäre von Wirtschaftswachstum nach dem Absturz erst einmal gar keine Rede mehr. Doch so weit wird es nach Ansicht des Sachverständigenrats zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung wahrscheinlich nicht kommen. "Es ist nicht wie in einem Krieg, in dem es massive strukturelle Verwerfungen gibt, weil alles zerbombt ist und die Arbeiter an der Front sind", erklärt Volker Wieland, Ökonomie-Professor an der Goethe-Universität Frankfurt.
Es könnte rasch wieder aufwärts gehen
Zwar wird es wohl nicht ausbleiben, dass vor allem kleine Unternehmen am Ende auf der Strecke bleiben. Wenn die Krise vorbei sei und alles wieder anlaufe, könne man in der Wirtschaft aber grundsätzlich so arbeiten wie zuvor, so Wieland, der zurzeit einer von nur drei statt üblicherweise fünf sogenannten Wirtschaftsweisen ist. Zwei Stellen sind vakant, die neuen Mitglieder müssen von der Bundesregierung noch berufen werden. Der Sachverständigenrat wurde 1963 gegründet, um die Regierung in Wirtschaftsfragen zu beraten.
Normalerweise melden sich die Wirtschaftsweisen einmal im Jahr mit einem Gutachten zu Wort. In der Corona-Pandemie legen sie nun ein Sondergutachten vor. So etwas ist für den Fall vorgesehen, dass "wirtschaftliche Fehlentwicklungen" erkennbar sind. Zuletzt gab es 2015 ein Sondergutachten zu den Konsequenzen aus der Euro-Krise. Zur Frage einer "Währungsunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR" äußerten sich die Forscher beispielsweise im Februar 1990.
Jetzt also die Corona-Krise
Die Ausbreitung des Virus stelle Gesellschaft und Politik in Deutschland und Europa vor neue und in diesem Ausmaß nicht gekannte Herausforderungen, schreiben die Wissenschaftler, die ihre Überlegungen im Grundsatz bereits vor einer Woche aufgestellt und dem Bundeswirtschaftsminister präsentiert hatten. Zu diesem Zeitpunkt allerdings noch ohne konkrete Zahlen.
Die liegen nun vor, basierend auf insgesamt drei Szenarien, die zu erwarten seien. Im derzeit wahrscheinlichsten Fall - bildlich erklärt mit einem kleinen v - schrumpft die Wirtschaft in diesem Jahr um 2,8 Prozent, zieht aber im nächsten Jahr dafür um 3,7 Prozent an. Ein zweites Szenario geht von minus 5,4 Prozent in diesem Jahr und einem Plus von 4,9 Prozent im kommenden Jahr aus. Das wäre das große V. Im schlimmsten Fall, der von den Wissenschaftlern angenommen wird, würde das Bruttoinlandsprodukt dieses Jahr um 4,5 Prozent schrumpfen und 2021 nur sehr langsam um etwa ein Prozent wachsen. Dies entspräche einem U-Verlauf.
Wenn es länger dauert, muss nachgeholfen werden
In diesem Fall müsste die Regierung wohl neue Hilfspakete für die Konjunktur schnüren. "Die getroffenen Politikmaßnahmen reichen dann womöglich nicht aus, tiefgreifende Beeinträchtigungen der Wirtschaftsstruktur zu verhindern", heißt es im Gutachten. Verschlechterte Finanzierungsbedingungen und eine verfestigte Unsicherheit könnten zudem Investitionen bremsen und zu Kaufzurückhaltung der Konsumenten führen.
Alles wird davon abhängen, wie lange die Wirtschaft stillstehen muss und viele Menschen nicht arbeiten können. "Im Vordergrund müssen die gesundheitspolitischen Maßnahmen stehen", betont Lars Feld, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und Vorsitzender des Sachverständigenrats. "Virologen und Epidemiologen sagen, es gibt keine Alternative." Das müsse man akzeptieren und hinnehmen.
Analysieren, abwägen und entscheiden
Vor diesem Hintergrund hält Feld die derzeit geltenden Maßnahmen zum Shutdown für gerechtfertigt und richtig. Diskussion darüber, dass die Beschränkungen und Verbote überzogen seien, weil am Ende der wirtschaftliche Schaden größer werde als durch die Pandemie selbst, findet er "zynisch": "Wir können die medizinischen Entscheidungen nicht hinterfragen, aber man muss Strategien entwickeln, wie man an die Arbeit zurückkann."
Es ist eine Gratwanderung. Die Wissenschaftler rechnen vor, dass jede Woche, in der die Wirtschaft länger stillsteht, einen überproportionalen, negativen Effekt auf die Konjunktur haben wird. Auf der anderen Seite, so betont Volker Wieland, sehe man in Italien und den USA, was passiere, wenn die Maßnahmen zu spät kommen oder nicht ausreichend sind. "Man kann das nicht laufen lassen."
Ausstiegsszenario vorbereiten
Die Sachverständigen gehen davon aus, dass die Bundesregierung bereits Pläne entwickelt, wie und in welcher Form das wirtschaftliche Leben in Deutschland wieder anziehen kann. "Eine klar kommunizierte Normalisierungsstrategie kann die Erwartungen der Unternehmen und Haushalte stabilisieren und die Unsicherheit verringern", betont Feld. Klare Worte trügen auch dazu bei, Erwartungen an den Finanzmärkten zu stabilisieren.
Das gilt in besonderer Weise mit Blick auf den Euro-Raum. Überall werden die Schuldenstände wachsen. Wichtig sei, so die Sachverständigen, sowohl einen sprunghaften Anstieg der Zinssätze als auch ein Wideraufflammen der Schuldenkrise zu vermeiden. Von Corona- oder Eurobonds, also einer gemeinschaftlichen Haftung, halten die Sachverständigen wenig. "Da ist das Risiko für den Bundeshaushalt meines Erachtens zu hoch", betont Lars Feld.
Europäischer Stabilitätsmechanismus
Stattdessen müsse der Rettungsschirm ESM zum Einsatz kommen. Allerdings mit weniger Auflagen für hilfesuchende Länder, als das in der Schuldenkrise der Fall gewesen sei. Einige Staaten seien "ökonomisch und sozial von den Kürzungspolitiken schwer gezeichnet", warnt der Wirtschaftsweise Achim Truger, Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Diese Länder dürften, wenn sie wegen der Corona-Krise neue Hilfskredite anfordern würden, nicht mit Sparauflagen belastet werden. "Alles, was diesen Anschein erweckt, ist hoch problematisch."