"Putin lebt in der Vergangenheit"
24. Februar 2022Deutsche Welle: Herr Kaminer, Sie sind in Moskau geboren, kennen Russland sehr gut, Sie schreiben über Russinnen und Russen und über die russische Seele. Können Sie sich mit Putins Russland im Moment identifizieren?
Wladimir Kaminer: Ich habe bis zuletzt gehofft, dass die russische Gesellschaft diesen Aggressor-Krieg nicht unterstützt. Aber anscheinend sind meine Landsleute in eine Lethargie verfallen. Ich weiß nicht, was passieren soll, damit sie wieder aufwachen. Zum Glück sehe ich jetzt verstärkt in sozialen Medien andere Bilder aus verschiedenen russischen Städten - aus Nowosibirsk, Moskau und Petersburg. Menschen, die trotz aller Risiken auf die Straße gehen, um gegen diesen Krieg zu protestieren. Dabei muss ich sagen, dass der Krieg in den offiziellen Medien überhaupt nicht gezeigt wird. Es wird nicht darüber berichtet. Meine Frau hat gerade mit ihrer Mutter gesprochen, die im Nordkaukasus wohnt, und sie hat erzählt, dass auf allen Fernsehkanälen nur die Ansprache des russischen Präsidenten wiederholt werde.
Putin spricht von "Entnazifizierung" und "Demilitarisierung". Was geht in seinem Kopf vor sich?
Inzwischen, glaube ich, können ziemlich viele Leute in Putins Kopf hineinschauen, weil vieles, was früher versteckt wurde, jetzt sichtbar geworden ist. Er strebt tatsächlich eine Weltherrschaft an, das hört sich komisch an, wie Star Wars. Ich schäme mich sehr für meine Heimat, dass eine solche von der Realität abgehobene Phantasie zum Gegenstand der Weltpolitik geworden ist. Fakt ist, dass Putin eine sehr große Gefahr für den Weltfrieden darstellt. Diesen Krieg, den er führt, um die Weltherrschaft zu erlangen, ist nicht gegen die Ukraine gerichtet. Die Ukraine existiert in seinem Kopf gar nicht. Ich bin mir absolut sicher, dass dieser Krieg gegen Europa und Amerika, gegen die westliche Welt geführt wird.
Was meinen Sie, wovon träumt Putin nachts?
Ich möchte nicht bei der Deutschen Welle Putins Psychotherapeuten spielen. Aber sein Trauma ist klar. Damals, als junger Mann und Offizier der Staatssicherheit, hat er es versäumt, das Land zu retten, für dessen Sicherheit er zuständig war. Und jetzt glaubt er, als allmächtiger Diktator, das Zeug dazu zu haben, diesen Fehler der Vergangenheit wieder wett zu machen - mit 70. Putin ist ein Mann, der ein sehr langweiliges und ziemlich eintöniges Leben hatte. Ich glaube, sehr viele Träume von ihm sind erst sehr spät in Erfüllung gegangen. Er wollte schon immer Eishockey spielen. Und erst mit 60 hat er überhaupt begonnen, auf dem Eis zu stehen. Und inzwischen kann er stehen. Aber nicht richtig gut. Ein anderer Traum von ihm ist es, die Vergangenheit zu verändern. Er lebt in der Vergangenheit. Die westlichen Politiker kommen nicht mit ihm klar, denn sie denken an die Zukunft und darüber, was in 80 Jahren mit unserem Klimawandel passieren wird. Das sind ganz verschiedene Weltansichten.
Lange Zeit dachte man, dass Putin nur drohen würde. Haben Sie persönlich mit diesem Angriff auf die Ukraine gerechnet?
Ich habe niemals damit gerechnet, dass Putin einen Bruderkrieg mitten in Europa anzettelt. Ich glaube, wirklich niemand hat damit gerechnet. Aber die Unsicherheit und die offensichtliche Schwäche der westlichen Politik hat ihn, glaube ich, zu der Überzeugung gebracht, dass er diesen Krieg leicht gewinnen wird.
Wie reagieren Ihre russischen Bekannten, die in Deutschland leben, auf die Geschehnisse?
Gestern und heute waren sehr viele Russen am Brandenburger Tor und haben mit Ukrainern zusammen vor der russischen Botschaft gegen den Krieg protestiert. Meine ukrainischen Freunde haben sich gewundert und fragten sich: "Wo waren die früher, die ganzen Russen? Erstaunlich, dass jetzt so viele gekommen sind." Denn für die Ukrainer ist der Krieg schon alt, er dauert seit 2014. Die Ukrainer haben 15.000 Menschen verloren in diesem fast unsichtbaren Krieg, der für Europa so ziemlich spurlos in den Medien unter allen anderen Nachrichten immer verschwand.
Putin präsentiert sich oft und gerne als "starker" Mann - beim Judo, beim Hockey, auf der Jagd. Gibt es etwas, das Putin Angst macht? Anfang des Monats etwa wurde die DW in Moskau faktisch verboten. Hat er denn Angst vor den ausländischen Medien oder lacht er über sie?
Er hat Angst vor freier Meinungsäußerung, vor jeder Art Freiheit. Wenn die Russen frei wären, dann hätten sie ihn schon längst verjagt. Wenn man ein bisschen Licht in diesen dunklen Kopf bringt, dann sieht man, wie unglaublich rückständig, unzivilisiert und unqualifiziert Putin und seine Kollegen, ehemalige KGB-Offiziere, sind. Es ist eine Katastrophe, dass so ein unqualifiziertes Personal die Regierung eines Landes stellt. Aber das ist auch die Folge von Gleichgültigkeit und Misstrauen. Meine Landsleute, die Russen, haben lange sehr ironisch, so postmodern ironisch in Richtung Kreml geschaut und gesagt "Ja, diese Politik geht uns nichts an, das ist egal, wer im Kreml sitzt. Das wird sowieso keine Auswirkung haben auf unser Leben. Und auch wenn ein Kaninchen der Präsident ist, es wird sich nichts ändern." Und jetzt haben sie das Kaninchen.
Sie haben mal gesagt, Putin sei ein russischer James Bond. Was passiert denn in diesem Film mit dem russischen James Bond? Geht James Bond am Ende drauf?
Naja, in der letzten James Bond Folge ist James Bond drauf gegangen. Das Beste, was Russland passieren kann, wäre ein verlorener Krieg. Da nehme ich Deutschland als Beispiel, damals 1945. Ich glaube, die Niederlage Deutschlands hat dem Land unglaublich geholfen und für Selbstbewusstsein und Veränderung der Bevölkerung gesorgt und hat aus einem archaischen Nazi-Land ein europäisches, modernes Land gemacht. Für Russland, glaube ich, wäre es die beste Variante, wenn wir den Krieg verlieren gegen die Ukraine.
Wladimir Kaminer (geboren 1967) wanderte 1990 aus der damaligen Sowjetunion aus und lebt seitdem in Berlin. Mit viel Witz und Selbstironie schreibt er seit Mitte der 90er-Jahre Kurzgeschichten und Romane über seine Erfahrungen als eingewanderter Russe und schaffte es immer wieder auf die Bestsellerlisten. Zu seinen größten Erfolgen gehört der Erzählband "Russendisko", der 2012 auch verfilmt wurde.
Das Gespräch führte Rayna Breuer.