Wohl temperiertes Spiel mit dem Feuer
20. Mai 2004Zwei Monate nach seinem umstrittenen Wahlsieg ist der
taiwanische Präsident Chen Shui-bian für eine zweite Amtszeit vereidigt worden. In seiner Antrittsrede sprach sich Chen am Donnerstag (20.5.2004) für bessere Beziehungen zu Peking aus, kündigte zugleich aber eine Verstärkung der Verteidigung an. "Wir lieben den Frieden, sind aber auch besorgt über die nationale Sicherheit", sagte Chen vor 200.000 Menschen in Taipeh.
Chen bekräftigte seine Absicht einer neuen Verfassung für Taiwan, das von China als abtrünnige Provinz betrachtet wird. In Peking wird darin der Versuch gesehen, formell die Unabhängigkeit der 160 Kilometer vom Festland entfernten Insel zu erklären. Für diesen Fall hat Peking wiederholt mit einer Invasion gedroht. "Die 1,3 Milliarden Chinesen werden es Chen Shui-bian niemals erlauben, die Toleranz des Festlands zu testen und Taiwans Unabhängigkeit anzustreben", hieß es in der Parteizeitung "Renmin Ribao".
Heftiges Säbelrasseln
Einen Tag vor der Vereidigung von Chen Shui-bian hatte China der abtrünnigen Insel erneut mit Krieg gedroht. Die chinesische Regierung werde "niemals die Unabhängigkeit von Taiwan tolerieren", hieß es in Medienberichten am Mittwoch (19.5.). Peking werde auch "eine Verlangsamung der Modernisierungsbestrebungen, eine Umkehr der chinesisch-amerikanischen Beziehungen und eine Boykott der Olympischen Spiele" 2008 in Peking hinnehmen, zitierte die Zeitung "China Daily" den Wissenschaftler Xu Bodong vom Institut für Taiwan-Studien an der Vereinigten Universität Pekings. Die chinesische Regierung benutzt oft Wissenschaftler, um ihre Position zu kontroversen Themen bekannt zu geben.
In Alarmbereitschaft
Chen hatte die Wahl am 20. März 2004 mit einem Vorsprung von 0,2 Prozentpunkten vor seinem Herausforderer Lien Chan gewonnen. Die Opposition warf dem Präsidenten Wahlbetrug vor und setzte eine Neuauszählung der Stimmen durch, die noch nicht abgeschlossen ist. Sie forderte deshalb in der vergangenen Woche vergeblich die Absage der Amtseinführung Chens.
Chen und seine Demokratische Fortschrittspartei (DPP) hatten mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich vereinigt. Das waren zwar nur wenige Stimmen mehr als die der Volksrepublik gesonnenere Opposition. Aber im Vergleich zur Wahl vor vier Jahren gab es große Stimmenzuwächse. Da Chen in den letzten vier Jahren innen- und wirtschaftspolitisch eher erfolglos agierte, betrachtet Chinas Regierung seinen Sieg wohl als Erfolg für die Unabhängigkeitsbestrebungen - offenbar ein großer Schock für Peking.
Ende der Zurückhaltung
Im Vorfeld der Taiwaner Präsidentenwahl Mitte März 2004 hatte sich Peking im Vergleich zu früheren Urnengängen weitgehend Zurückhaltung auferlegt. Es gab weder eine groß angelegte Propaganda-Offensive gegen Chen Shui-bian noch militärische Drohungen. Offensichtlich wollten die Machthaber in Peking zunächst das Wahlergebnis abwarten, um dem Unabhängigkeitsbefürworter Chen nicht selbst durch übereilte Reaktionen zu einem Symphatiebonus und damit zum Sieg zu verhelfen.
In Peking weiß man, dass Chen seine Unabhängigkeits-Bestrebungen weiter verfolgen wird. Die Drohungen vom Festland stecken ihm dafür allerdings einen sehr engen Rahmen und kommen zu einem günstigen Moment: Die USA als Taiwans Schutzmacht sind im Irak und auf der koreanischen Halbinsel ausreichend beschäftigt, sie sind an strategischer Kooperation mit Peking interessiert und dürften daher keinerlei Interesse an einer Eskalation des Taiwan-Konfliktes haben. (kas)