Wundenlecken in Erfurt
9. Februar 2020Auch mit einigen Tagen Abstand kann Julian Degen es noch kaum fassen: "Ich spürte eine Leere", sagt er und nippt an seinem Kaffee. "Und dann war ich wütend."
Degen sitzt im RedRoXX, dem Erfurter Büro der Partei Die Linke, das gleichzeitig als Jugendtreff fungiert. Er ist Mitarbeiter im Team von Susanne Hennig-Wellsow. Die Thüringer Landtagsabgeordnete der Linken erlangte am vergangenen Mittwoch bundesweite Bekanntheit, als sie Thomas Kemmerich von den Freien Demokraten (FDP) einen Blumenstrauß vor die Füße warf, weil dieser sich mit Stimmen der Alternative für Deutschland (AfD) zum Ministerpräsidenten hatte wählen lassen.
Ihre Frustration sei mit Händen greifbar gewesen, als sie nach der Sitzung ins RedRoXX kam, berichtet ihr Mitarbeiter Degen: "Ich habe die Susi noch nie so gesehen."
Seltsame Atmosphäre in Erfurt
Dutzende von Anhängern der Linkspartei hatten sich hier versammelt, nachdem ihr schlimmster Albtraum Wirklichkeit wurde: Nicht nur war ihr Kandidat, der bis dahin amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow, gescheitert. Zum ersten Mal seit 1945 hatte in Deutschland eine gemäßigte Partei ihren Kandidaten mit Stimmen einer extrem rechten Partei in ein Amt gehoben.
Der Frust der Erfurter Linken äußerte sich auch in einer spontanen Demonstration ihrer Anhänger auf den Stufen des Thüringer Landtags - just in dem Moment, als Kemmerich vor dem Parlament erklärte, dass er die Wahl annehme.
Der Protest mit mehr als 1000 Teilnehmern hatte für Degen etwas Einzigartiges: "Es ist so schwierig, Menschen in Erfurt auf die Straßen zu bewegen", sagt der Aktivist, "Aber am Mittwoch habe ich mit Leuten gesprochen, die sonst nie auf eine Demo gehen. Sie sind von der Arbeit gekommen." Sogar die Polizei, die normalerweise eher robust auf Kundgebungen vor dem Parlament reagiert, habe mit außergewöhnlichem Fingerspitzengefühl agiert, sagt Degen.
Enttäuschung über CDU am größten
Bei allem Ärger über die FDP ist bei den Linken die Enttäuschung über die Haltung der Christdemokraten (CDU) am größten. Wenn sich nur fünf ihrer Abgeordneten enthalten hätten, wäre Kemmerich nicht gewählt worden, rechnet Degen vor. Aber nur drei CDU-Abgeordnete machten von diesem Recht Gebrauch, und so wurde Kemmerich mit einer Stimme Vorsprung zum Ministerpräsidenten gewählt.
Die fehlenden Stimmen hätten FDP-Chef Christian Lindner und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer eine turbulente Woche erspart, aus der sie als Parteivorsitzende deutlich geschwächt hervorgingen. Dass der FDP-Mann drei Tage später zurücktrat, hat daran wenig geändert.
"Wir haben bis zur letzten Sekunde gehofft, dass es auch Leute bei der CDU geben wird, die unter keinen Umständen mit der AfD gemeinsame Sache machen werden", sagte die Linken-Abgeordnete Katja Maurer der DW. "Ich habe noch nie gesehen, dass so viele Leute wegen einer Wahl geweint haben." Auch sie selbst habe geweint.
"Es war ein Schock, weil in diesem Moment klar geworden ist, dass unser Glaube, dass die CDU einen Funken demokratischen Willens in sich trägt, naiv war," sagt Maurer. Die CDU in Erfurt und alle anderen im Landtag von Thüringen vertretenden Parteien außer der Linken, ließen am Samstag Interviewanfragen der DW zu dem Thema unbeantwortet.
Muslime sorgen sich um ihre Sicherheit
Doch nicht nur für Wähler und Anhänger der Linken dürfte die Wahl vom Mittwoch eine bittere Pille sein. Denn mit ihr könnte die Ära Ramelow enden. Er gilt als moderater Linker, seine persönlichen Zustimmungswerte, teils über 60 Prozent, deuten darauf hin, dass er auch jenseits der Parteigrenzen Ansehen genoss.
Regelrechte Sorgen bereitet Ramelows Niederlage Suleman Malik, dem Sprecher der örtlichen Ahmadiyya Moschee. Ramelow ist einer der wenigen offen praktizierenden Christen in der Führungsriege der Linken, sein Bekenntnis zur Glaubensfreiheit seien für Malik und die Ahmadiyya Gemeinde, die in vielen muslimisch geprägten Ländern nicht anerkannt wird, extrem wichtig gewesen. Ramelow war 2018 unter lauten Protesten von Rechtsextremen zur Grundsteinlegung der neuen Moschee erschienen.
Auch Malik hatte sich - gemeinsam mit anderen Vertretern der kleinen muslimischen Gemeinde Erfurts, den spontanen Protesten am Mittwoch angeschlossen: "Natürlich sind wir auf die Straße gegangen", sagt er, "weil wir genau wussten, dass nun diese Feinde der Demokratie unsere gesellschaftliche Grundordnung gefährdet haben."
Malik hofft, dass die Moschee trotzdem im Sommer eröffnet werden kann. Ihm zufolge wäre es die einzige freistehende Moschee - mit Kuppel und Minarett - in Ostdeutschland außerhalb von Berlin. "Das hieße, dass wir uns nach außen zeigen können, dass wir Teil dieser Gesellschaft sind", sagt er. "Genau hier kann man diese ganzen Vorurteile gegen Muslime abbauen."
Fünfzehn Jahre lang, erzählt er, habe die Gemeinde gegen lokalen Widerstand für Spenden, Bauland und die Genehmigung gekämpft. Und selbst danach habe sich das Projekt verzögert, weil Unternehmen aus Sorge vor Feindseligkeiten den Auftrag ablehnten. "Und diese Angst", sagt Malik, "wird geschürt von antidemokratischen Kräften im Parlament."