Wurde Swetlana Tichanowskaja missverstanden?
24. Februar 2021"Ich muss zugeben, dass wir die Straße verloren haben", sagte die belarussische Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja in einem Interview für die Schweizer Zeitung "Le Temps". Sie fügte hinzu, die Strategie der Oppositionsbewegung bestehe nun darin, "uns besser zu organisieren und das Regime unter ständigen Druck zu setzen, bis die Menschen bereit sind, vielleicht im Frühjahr wieder auf die Straße zu gehen".
Andrej Vardomatski, Leiter der in Warschau ansässigen Denkfabrik "Belarusian Analytical Workroom" (BAW), meint allerdings, "man kann nicht verlieren, was man nicht besaß". Im Gespräch mit der DW betont er, das Hauptmerkmal der belarussischen Proteste sei bislang die Selbstorganisation gewesen. Der Soziologe weist darauf hin, dass "Micro-Leader" in den Kolonnen der Demonstranten auf der Straße, in Hinterhöfen und sozialen Netzwerken die Richtung vorgaben - und nicht bekannte Vertreter der Opposition im In- und Ausland.
Seit der Präsidentschaftswahl im August waren in Belarus Zehntausende gegen den seit 1994 autoritär regierenden Staatschef Alexander Lukaschenko auf die Straße gegangen. Die Opposition wirft ihm massiven Wahlbetrug vor. Sicherheitskräfte gingen hart gegen die Demonstranten vor. Tausende wurden festgenommen und Berichten zufolge teils schwer misshandelt. Tichanowskaja, die bei der Wahl gegen Lukaschenko angetreten war, ist wie viele andere Oppositionspolitiker ins Ausland geflohen und lebt derzeit in Litauen.
Ist ein Wendepunkt erreicht?
Nach Ansicht des Minsker Politologen Alexej Dzermant hat sich die Selbstorganisation in den Hinterhöfen der Städte aber als schwach erwiesen. Die Aktionen hätten wenig Wirkung gezeigt. Daher hätten sich die Behörden nicht gezwungen gesehen, auf sie einzugehen. Tichanowskajas Erklärung zeige, so Dzermant im DW-Gespräch, dass ein Teil der Oppositionellen im Exil sich diese Realität in Belarus nun eingestehe.
"Das geschah zehn Tage nach der Allbelarussischen Volksversammlung, deren Boykott misslang. Auf der Straße gibt es keinen Aufstand mehr", betont der Experte. Er ist überzeugt, dass die Volksversammlung, ein Kongress aus 2700 handverlesenen Delegierten, die Lukaschenko bejubelten, ein Wendepunkt war. "Lukaschenkos Anhänger wurden mobilisiert und ihre Aktionen wirken in gewisser Weise auf die Gegenseite. Und die hat gesehen, dass ihr Gegner bei weitem keine Minderheit ist, dass er überall viele Anhänger hat und dass er sich seiner Stärken bewusst ist."
Der belarussische Politikexperte Alexander Feduta weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass von einer "Depression unter den Demonstranten", mit der die Behörden vielleicht gerechnet hätten, aber keine Rede sein könne. Auch sei falsch zu behaupten, die Straße habe ihre Funktion als Ort verloren, wo oppositionelle Stimmung zum Ausdruck komme. "Dies ist unfair gegenüber denen, die auf die Straße gehen", unterstreicht er.
Falsch verstanden und falsch übersetzt?
Feduta rät Swetlana Tichanowskaja und ihren Mitarbeitern stärker auf ihre Formulierungen zu achten. "Vielleicht hat man sie nicht ganz richtig verstanden und übersetzt, was ihr Berater Franak Viacorka bereits angedeutet hat. Aber wenn sie wirklich das sagen wollte, was gedruckt wurde, dann wäre es besser gewesen, sie hätte es nicht gesagt, weil diese Worte ihrer Popularität auf der Straße schaden", so Feduta.
Aber seiner Meinung nach ist Tichanowskaja nur ein Gesicht und eine Stimme des Protests, und nicht dessen Anführerin. Das habe sie selbst wiederholt zugegeben: "Sie hat nicht die notwendigen politischen Schritte unternommen, um diese Führung aufzubauen."
Alexej Dzermant fügt dem hinzu, dass die Oppositionellen, die sich im Ausland befinden, weder große Popularität noch Respekt genießen. Sie würden zwar viel reden, aber wenig Einfluss auf die oppositionellen Massen in ihrer Heimat haben. "Die Opposition hatte keine starken Anführer, die wissen, wie man mit Massen umgeht", so Dzermant.
Gehen die Proteste im Frühjahr weiter?
Andrej Vardomatski ist überzeugt, dass die empfundene Ungerechtigkeit und die "spezifischen Rechenkünste" der Zentralen Wahlkommission ursprünglich das Motiv für die Massendemos nach den Präsidentschaftswahlen waren. Das brutale Vorgehen der Polizei habe schließlich bei den Menschen einen "emotionalen Zusammenbruch" ausgelöst, betont der Soziologe. Aus seiner Sicht sind die Gründe für den Protest nicht verschwunden: "Es ist wie ein kochender Kessel, den man mit einem Deckel schließt, der aber eine Explosion nicht verhindern kann."
Alexander Feduta glaubt, dass es den Behörden nicht gelingen wird, die Proteste mit Gewalt und verschärften Gesetzen zu unterdrücken: "Es ist völlig klar, dass der Unmut unter der Bevölkerung zunimmt. Man kann aber jetzt nicht sagen, in welcher Form er sich manifestieren wird. Ich habe keine Zweifel, dass die Menschen wieder auf die Straße gehen werden."
Auch Alexej Dzermant rechnet mit weiteren Protesten, vielleicht am 25. März, dem Tag der Freiheit, oder am 26. April, dem Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl. Aber er ist skeptisch: "Ein erheblicher Teil der Demonstranten ist enttäuscht, Radikale sind in Haft oder im Ausland. Diejenigen, die noch da sind, suchen einen Dialog und eine Kooperation mit der Staatsmacht." Dzermant geht davon aus, dass sich der Protest von selbst auflöst.
Dem Minsker Politikexperten Artyom Shraibman zufolge sind drei Faktoren entscheidend dafür, ob es wieder Proteste geben wird und wie stark sie ausfallen könnten: Der Glaube an den Sieg, die Angst vor Repressionen und das Ausmaß des Unmuts. "Die Antwort auf die Frage, ob es im Frühjahr, Sommer, Herbst oder erst in drei Jahren wieder Proteste geben wird, hängt davon ab wie stark diese Faktoren sein werden", so Shraibman auf seinem Telegram-Kanal.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk