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Politik

Wut auf den armenischen Premierminister

Aschot Gasasjan
10. November 2020

Nach dem unter russischer Vermittlung zwischen Armenien und Aserbaidschan ereichten Berg-Karabach-Abkommen ist es in Eriwan zu Massenprotesten gekommen. Wird sich die Regierung von Nikol Paschinjan halten können?

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Konflikt in Berg-Karabach
Bild: Dmitri Lovetsky/AP/dpa/picture alliance

In der Nacht auf den 10. November schlief in Eriwan niemand. Unmittelbar nach der Veröffentlichung der gemeinsamen Erklärung des armenischen Premierministers und der Präsidenten von Aserbaidschan und Russland, in der es um die Einstellung der Kampfhandlungen in Berg-Karabach und die Bedingungen dafür geht, eilten Tausende Einwohner der armenischen Hauptstadt zum Regierungssitz. Den Demonstranten gelang es, in das Gebäude einzudringen, ohne auf Widerstand der Wachen zu stoßen. Die aufgebrachte Masse zertrümmerte den Sitzungssaal der Regierung und das Büro von Premierminister Nikol Paschinjan.

Bis zum Morgen hatte sich die Situation nicht beruhigt, obwohl Vertreter des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs der armenischen Streitkräfte dazu aufgerufen hatten, "eine unvergleichlich starke und effiziente Armee aufzubauen" und nichts zu unternehmen, was "die Grundlagen der Staatlichkeit untergraben" könnte. Premier Paschinjan ging in der Nacht dreimal live bei Facebook auf Sendung. Er forderte die Menschen auf, sich um den armenischen Staat zu scharen. Wo genau er sich aufhält ist unbekannt. Paschinjan versicherte, er habe Eriwan nicht verlassen.

Konflikt in Berg-Karabach
Demonstranten im Sitzungssaal der RegierungBild: Dmitri Lovetsky/AP/dpa/picture alliance

Währenddessen gingen immer mehr Menschen auf die Straßen. Einige zogen zum Parlament und besetzten den Plenarsaal. Dabei wurde Parlamentspräsident Ararat Mirsojan zusammengeschlagen und musste ins Krankenhaus gebracht werden.

Die Demonstranten forderten den sofortigen Rücktritt des Premierministers und seiner Regierung. Sie verlangten zudem, die Unterschrift der armenischen Seite unter dem von Aserbaidschan, Armenien und Russland ausgehandelten Abkommen zu widerrufen. Aus ihrer Sicht hat Paschinjan die Region Berg-Karabach aufgegeben und damit Verrat an den Menschen begangen, die ihn vor zweieinhalb Jahren an die Macht gebracht hatten.

Hat Paschinjan eine Kapitulation unterschrieben?

"Das hat niemand erwartet!", sagt Kamo, ein empörter Taxifahrer aus Eriwan. Auch er ist zum Parlament gekommen, um Paschinjan sein Misstrauen auszudrücken. Er findet, während junge Männer an der Front sterben, sei hinter ihrem Rücken Verrat begangen worden. Paschinjan habe ein Dokument unterschrieben, was kein vernünftiger Armenier getan hätte. Kamo will nun Paschinjans Rücktritt: "An seine Stelle muss ein Mann treten, der unser Volk von dieser Schande und Demütigung reinwaschen kann."

"Offenbar haben alle Konfliktparteien bekommen, was sie wollten. Alle außer Armenien, das nur verliert", sagt der Kameramann Levon Grigorjan, der mit Freunden zum Parlament gekommen ist. Seiner Meinung nach hat Aserbaidschan die Kontrolle über fast ganz Berg-Karabach erlangt. Die Türkei sei zufrieden, dass ihr strategischer Partner Aserbaidschan sein Ziel erreicht habe, und Russland sei froh, den Konflikt beendet zu haben. Nur Armenien habe einen explosiven Frieden erhalten. "Faktisch hat Paschinjan eine Kapitulation unterzeichnet", so Grigorjan.

Nikol Paschinjan
Nikol Paschinjan wird Kapitulation vorgeworfenBild: picture alliance/dpa/K. Nietfeld

Armenisches Parlament wartet auf Quorum

Argischti, ein weiterer Teilnehmer der Proteste, stimmt ihm zu. Er sagt, Paschinjan habe kein Recht gehabt, heimlich hinter dem Rücken der Menschen ein solch schicksalhaftes Dokument zu unterschreiben: "In Wirklichkeit hat der Regierungschef die gesamte nationale Befreiungsbewegung unseres Volkes begraben und alle Errungenschaften nach dem Sieg im ersten Karabach-Krieg zunichte gemacht."

Argischti meint, auf einer Dringlichkeitssitzung des Parlaments sollte über die sofortige Absetzung von Paschinjan entschieden werden. Doch dies könnte schwierig werden, da das Regierungslager die Mehrheit der Abgeordneten stellt. "Man muss die Abgeordneten überzeugen, für die Absetzung zu stimmen", sagt Argischti.

Doch die Abgeordneten der Regierungsmehrheit beeilen sich nicht ins Parlament, obwohl die Demonstranten ihnen versichert haben, sie "nicht anzutasten". Daher gibt es im Parlament kein Quorum. Dort befinden sich nur Abgeordnete der oppositionellen Fraktionen "Blühendes Armenien" von Gagik Zarukjan und "Leuchtendes Armenien" von Edmon Marukjan.

Dem armenischen Politikexperten Manvel Gumaschjan zufolge sehen tatsächlich viele Armenier in dem Berg-Karabach-Abkommen eine Kapitulation. Es habe den Umfragewerten der Regierung und vor allem Paschinjan selbst erheblich geschadet. "Die Hauptfrage ist jetzt, ob die Opposition in der Lage sein wird, diese Krise auszunutzen und Paschinjan die Macht zu entziehen", so Gumaschjan im Gespräch mit der DW. Die Nacht habe die Regierung überstanden, doch das werde nicht der letzte Versuch gewesen sein, sie abzusetzen, meint der Experte. Noch würden sich die Sicherheitskräfte neutral verhalten. Gumaschjan ist sich aber sicher, dass Armenien und Berg-Karabach schwierige Monate bevorstehen.