Yoko Tawada: "Etüden im Schnee"
9. Oktober 2018Sie waren das Traumpaar des Jahres 2007. Alle Welt kam nach Berlin, um den knuddeligen Eisbären Knut und seinen Pfleger Thomas Dörflein im Berliner Zoo zu erleben. Sie in ihren Shows zu beobachten, wenn der kleine, von seiner Mutter verstoßene Eisbär mit seiner "Ersatzmutter" spielte, einem Kleinkind ähnlich mit dem Kümmerer laufen und schwimmen lernte, rührte die Nation.
Bilder, wie Dörflein das Bärenbaby nach dessen Geburt im Dezember 2006 mit der Flasche aufpäppelte, hatten monatelang nicht nur Leser der bunten Blätter beglückt. Als der Tierpfleger im September 2008 starb, posteten auch seriöse Medien Videos auf ihren Webseiten, die zeigen sollten, wie Knut um seinen Ziehvater trauerte.
Und als dann der berühmte Eisbär, der es sogar auf das Cover der Zeitschrift "Vanity Fair" geschafft hatte, selber im Frühjahr 2011 durch eine rätselhafte Krankheit umkam, war das eine Weltnachricht.
Eine Bärengeschichte in drei Generationen
Yoko Tawada hat den Bärenhype in Berlin fasziniert miterlebt und sich von der Begeisterung zu ihrem Buch "Etüden im Schnee" inspirieren lassen. Der Roman erzählt nicht nur von Knut, sondern auch von seinen Vorfahren: Das Leben der Großmutter, die Zirkusabenteuer der Mutter Toska.
Für das erste Kapitel, "Evolutionstheorie der Großmutter", lässt sich kein tatsächliches tierisches Vorbild ausmachen. Dafür finden sich umso mehr historische Parallelen im menschlichen Leben: Denn die Großmutter ist eine Intellektuelle, die - als Bärin - auf grausame Weise lernen muss, auf zwei Beinen zu gehen, und zum Bühnenstar wird, als Autorin aber mit ihrer Autobiografie reüssiert.
Sozialistische Geschichte aus Bärensicht
"Das Schreiben unterschied sich nicht sehr von einem Winterschlaf. In den Augen der Außenstehenden sah ich vielleicht verschlafen aus, aber in der Bärenhöhle meines Gehirns brachte ich meine eigene Kindheit zur Welt und zog sie heimlich groß." In der Ichform erzählt die selbstbewusste Bärenfrau von ihrer Kindheit in der UdSSR, von Kongressen mit Themen wie "Die Bedeutung der Fahrräder für die Volkswirtschaft" und breitet ihre weisen Weltbetrachtungen aus: "Wir haben keine Wahl im Leben, weil das, was wir können, in Hinblick auf das Leben nicht so viel ist, wie wir uns einbilden."
Während ihre Autobiografie in Moskau als Fortsetzungsserie erscheint, entdecken westdeutsche Zeitschriften die Schriftstellerin. Der sowjetische Schriftstellerverband kassiert 10.000 Dollar, die russische Bärin darf nach Westberlin ausreisen und mutiert zur Exilautorin. Später zieht es sie in die Freiheit Kanadas, wo ihre Zwillingskinder geboren werden. Nur das Mädchen, das sie Toska nennt, überlebt. Doch Christian, ihr dänischer Mann, drängt auf die Rückkehr in ein sozialistisches Land nach Ostberlin, in die Hauptstadt der DDR.
Tierische Satire mit Vorläufern
Yoko Tawada gelingt ein lustvolles Vexierspiel, indem sie aus der Bärenperspektive eine durch und durch menschliche Geschichte macht, nur um unerwartet wieder von Würfelzucker und Kunststücken auf dem Dreirad zu erzählen. Ihr Text ist spaßig, voller satirischer Anspielungen auf den philosophischen Ehrgeiz von Autoren und die Meinungsmache von Literaturfunktionären.
Tiere tauchen schon im Frühwerk der japanischen-deutschen Schriftstellerin auf, zum Beispiel in der Erzählung "Korobi Neko" (Gestürzte Katzen). Sie lässt sie wie im Märchen erzählen. Dass sie damit in einer guten Tradition steht, klingt im Roman an. Ganz nebenbei hat die Autorin berühmte Vorläufer denkender und sprechender Vierbeiner in den Text eingeflochten: E.T.A. Hoffmanns Kater Murr, Kafkas menschlichen Affen aus "Ein Bericht für eine Akademie", aber auch Witzfiguren wie Herrn Fuchs und Frau Elster aus dem DDR-Kinderfernsehen.
Poetische Schönheit am "Nordpol des Traums"
Im zweiten Kapitel "Todeskuss" erzählt Toskas Dompteurin Barbara rückblickend ein bisschen schwermütig von ihrer Bühnenkunst im "staatlichen Zirkus der Deutschen Demokratischen Republik", deren Glanzstück der Kuss der Eisbärin Toska war.
Das Verwirrspiel setzt sich fort, als die zeitliche Perspektive plötzlich aus der Chronologie kippt: "Es tat mir so leid, dass Toska nach der Wende hart kritisiert wurde, weil sie ihren Sohn Knut verstieß. Manche sagten, Toska habe ihren Sohn in fremde Hände gegeben, weil sie aus der DDR stammt."
Eine deutliche Realsatire, denn Tosca, die tatsächliche Rabenmutter des Eisbären Knut, wurde als Jungtier in Kanada gefangen und in die DDR verkauft, wo sie jahrzehntelang im Staatszirkus der DDR gehalten wurde.
Von der deutschen Wiedervereinigung und dem Tod der Dompteurin, die fünf Jahrzehnte ihres Lebens dem Zirkus gewidmet hatte, berichtet im Roman die Bärin Toska, die Wiedergeburt einer vorherigen Toska. "Ich wollte mich mit ihr weiter am Nordpol des Traums unterhalten." Hier entfaltet der Text seine größte poetische Schönheit.
Knut, Berlin und ein Mondspaziergang
Der dritte Romanteil "Im Andenken an den Nordpol" ist eng an die Geschichte von Knut, wie sie sich tatsächlich ereignet hat, angelehnt. Die Perspektive ist dabei die des altklugen Bärenkinds, wir erleben all seine Gedanken, Späße und inneren Monologe mit.
Freundlich ironisch spielt die Autorin mit dem Zeitgeschehen, wenn zum Beispiel der Eisbär Knut als Advokat gegen den Klimawandel herhalten muss oder er plötzlich mit "Michael" auf einer Party ist und der ihn fragt "Bist du schon einmal auf dem Mond herumgelaufen?" Jacksons Moonwalk am Reichstag noch zu Mauer-Zeiten und seine späteren Auftritte hatten Berlin jedes Mal in Hysterie versetzt - ähnlich wie Eisbärchen Knut.
Yoko Tawada ist eine Sprachkünstlerin, die es liebt, Worte abzuklopfen oder absurd-dadaistisch neue Worte zu erfinden und den Klang mit Bedeutung zu füllen. Ihre Gedichte und poetischen Performances zeugen davon. "Etüden im Schnee", das erzählerisch doch so eng mit realen Ereignissen verflochten ist, gelingt als Prosa etwas Ähnliches. Der Roman schafft eine neue, traumhafte Welt, in der wir uns als Leser zuhause fühlen. Virtuos.
Yoko Tawada: "Etüden im Schnee" (2014), konkursbuch Verlag
Yoko Tawada (geb. 1960 in Tokio) lebt seit 1982 in Deutschland, seit 2006 in Berlin, und sie schreibt auf Deutsch und Japanisch: Gedichte, Romane, Erzählungen und literarische Essays. Sie erhielt viele Stipendien und Auszeichnungen und ist Mitglied der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.