Zaghaft: NATO und EU unterstützen Türkei
28. Februar 2020Mitgefühl und "politische Unterstützung" - beides haben die Verbündeten der Türkei ausgesprochen. Er habe in der vergangenen Nacht mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu über die Situation in Idlib und die syrischen Luftangriffe auf türkische Posten gesprochen, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einem zweistündigen Treffen des NATO-Rats. Das Bündnis helfe bereits in der Krisenregion, indem es den Luftraum mit seinem fliegenden Radarsystem AWACS überwache. Und schließlich fügte Stoltenberg noch ein paar warme Worte hinzu: "Die Türkei hat am meisten unter der Krise in Syrien gelitten", die NATO spreche ihre Solidarität aus. Was es nicht gibt, sind konkrete Maßnahmen irgendwelcher Art.
NATO: Bündnisverpflichtung im Krisenfall
Die Regierung in Ankara hatte sich auf Artikel 4 des NATO-Vertrages berufen, um die Bündnispartner zu einer Stellungnahme zu bewegen. Es ist erst das sechste Mal seit Gründung der NATO, dass der Artikel 4 von einem Mitgliedsland angerufen wird. Danach kann eine Regierung Konsultationen verlangen, wenn sie den Eindruck hat, dass ihre territoriale Integrität, ihre politische Unabhängigkeit oder ihre Sicherheit bedroht ist.
Die Schwelle liegt dabei niedriger als für den sogenannten Bündnisfall nach Artikel 5, in dem die NATO einem Mitgliedsland militärisch beisteht, wenn es Ziel eines bewaffneten Angriffs wird. Das Prinzip dahinter: Eine Attacke gegen ein NATO-Land gilt als Angriff gegen alle. Allerdings müsste es sich gegen einen Militärschlag auf dem Boden des betreffenden Mitgliedes handeln. Das einzige Mal, dass Artikel 5 bisher zum Einsatz kam, war nach dem 11. September 2001, als die NATO-Staaten der Einschätzung der US-Regierung zustimmten, dass die Terrorangriffe von außen gegen die USA gerichtet waren.
Es gab bereits 2012 eine Situation, in der die Türkei die NATO um Hilfe bat. Damals gab es eine Serie von Angriffen auf beiden Seiten der syrisch-türkischen Grenze, weil die Türkei Rebellengruppen im Kampf gegen das Assad-Regime unterstützte. Im Zuge dieser Auseinandersetzung schoss Syrien unter anderem einen türkischen Kampfjet ab. Die NATO-Außenminister beschlossen daraufhin den Einsatz "Active Fence" und stationierten Patriot-Raketen und weitere Flugabwehrwaffen an der türkisch-syrischen Grenze. Unter anderem waren dort damals auch Bundeswehrsoldaten stationiert.
Ankara: Anzeichen einer politischen Kehrtwende
Die Anrufung der NATO scheint auf eine gewisse Kehrtwende in der türkischen Außenpolitik zu deuten. Noch beim NATO-Gipfel im britischen Watford im Dezember gab es starke Spannungen zwischen den USA und der Türkei, weil Präsident Recep Tayyip Erdogan sich entgegen allen Warnungen aus Washington für den Ankauf des russisches Raketensystems S400 entschieden hatte. Ein offener Eklat konnte nur knapp verhindert werden.
Seitdem gab es Zweifel an der Bündnistreue Ankaras. Der politische Flirt mit Moskau erweckte den Eindruck, als ob Erdogan den Partner wechseln wolle. Nach den Angriffen der vergangenen Nacht auf türkische Beobachterposten bei Idlib allerdings musste der türkische Präsident sich fragen, ob Moskau nur eigene Interessen verfolge - und eben nicht bereit sei, dem Assad-Regime Grenzen zu setzen, um türkische Soldaten zu schützen.
Unterdessen forderte ein türkischer Regierungssprecher eine Flugverbotszone an der syrisch-türkischen Grenze. "Die internationale Gemeinschaft muss handeln, um Zivilisten zu schützen", schrieb Fahrettin Altun auf Twitter. Diese Bitte könnten nur die USA erfüllen.
Dazu gibt es erste Stimmen aus dem US-Senat in Washington, wo Republikaner Lindsey Graham erklärte: "Die Welt schaut tatenlos bei der Zerstörung von Idlib durch Assad, Iran und die Russen zu." Wenn die Staatengemeinschaft unter Führung der USA "gegen diese Kräfte zurückschlagen würde", dann sei er zuversichtlich, dass diese "sich zurückziehen und den Weg für politische Verhandlungen öffnen würden, um den Krieg in Syrien zu beenden".
Graham gilt als Vertrauter von US-Präsident Donald Trump, aber es ist unklar, ob er in seinem Namen gesprochen hat. Der Präsident hatte im vergangenen Jahr den Abzug seiner Soldaten aus dem Kurdengebiet im Nordwesten Syriens angeordnet. Gleichzeitig deutet eine Äußerung von Kay Bailey Hutchinson, US-Botschafterin bei der NATO, darauf hin, dass die USA Interesse daran haben, dass die Türkei in die Arme der NATO zurückkehrt: "Ich hoffe, Erdogan wird erkennen, dass wir früher seine Verbündeten waren und es auch für die Zukunft sind."
EU: Abwehr von Flüchtlingen
EU-Chefdiplomat Josep Borrell warnte unterdessen: "Es besteht das Risiko, in eine offene internationale Konfrontation zu rutschen." Seit Wochen bemühen sich die EU-Außenminister um Deeskalation in der Region Idlib und warnen immer wieder vor einer humanitären Katastrophe. Allerdings werden ihre Worte nicht gehört, denn sie sind kein aktiver Mitspieler in der Region und verfügen über keine Truppen oder Druckmittel, um ihrem Wunsch Nachdruck zu verleihen. Ein Engagement der NATO wiederum hängt von der Entscheidung der USA ab, ob sie in die politische und militärische Gemengelage am Ende des Syrien-Krieges hineingezogen werden wollen.
Die Sprecherin der EU-Kommission versuchte wiederum, die mutmaßlichen Drohungen der Türkei aus der vergangenen Nacht zu entschärfen, Ankara werde die Grenzen nach Europa für Flüchtlinge öffnen. "Es gibt keine offizielle Mitteilung der Türkei, wir gehen davon aus, dass sie ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen mit der EU einhält", erklärte Dana Spinant. Der 2016 geschlossene Vertrag sieht vor, dass die Türkei Flüchtlinge von der Weiterreise in die EU abhält und diese im Gegenzug die Türkei mit sechs Milliarden Euro unterstützt, um die fast vier Millionen syrischen Flüchtlinge im Land zu versorgen. Präsident Erdogan hatte schon im vergangenen Jahr mehrfach damit gedroht, er wolle die Grenzen nach Europa öffnen.
Es gibt Berichte, es versammelten sich bereits große Gruppen von Flüchtlingen an der Grenze zu Griechenland. Man wolle erst Berichte aus der Region abwarten, erklärten dazu verschiedene Sprecher der EU-Kommission. Sie betonten vor allem, dass die Kriegsparteien umgehend Zugang zur Region um Idlib gewähren müssten, weil eine erneute humanitäre Katastrophe drohe. Nach UN-Berichten ist dort inzwischen rund eine Million Syrer auf der Flucht.
Zur konkreten Situation an den EU-Außengrenzen hieß es in Brüssel, man sei inzwischen besser darauf vorbereitet, Flüchtlingen den Grenzübertritt zu verwehren. Unmittelbare Maßnahmen zum Grenzschutz lägen allerdings in der Hand der Mitgliedsländer. Andererseits müsse die EU sich an die Verpflichtungen aus der Menschenrechts-Charta und an die Asylgesetze halten. Ein Hinweis, den die Anrainerländer der Türkei, also Griechenland und Bulgarien, derzeit eher ungerne hören.